Öffentliche Verkehrsmittel, Touristenattraktionen, Militärstützpunkte: Eine Liste mit angeblichen IS-Zielen in der Türkei sorgt zwei Tage nach dem verheerenden Anschlag am Atatürk-Flughafen weiter für Angst und Schrecken. Die nächste Bombe, so fürchten viele, ist nur eine Frage der Zeit. «Ich versuche jetzt, wann immer möglich, Menschenansammlungen zu vermeiden», sagt ein junger Istanbuler. «Wenn sie selbst gut bewachte Flughäfen angreifen können, dann ist man nirgendwo mehr sicher.»
Dabei war die Türkei lange vom IS verschont geblieben. Immer wieder unterstellten Kritiker im In- und Ausland der türkischen Regierung gar eine Zusammenarbeit mit den Terroristen. Gerüchte über Waffen- und Geldlieferungen machten die Runde. Auch, dass in Syrien verwundete Islamisten in türkischen Spitälern behandelt wurden, galt als offenes Geheimnis.
Kurden als gemeinsamer Feind
«Der IS braucht die Türkei, sie dient ihm als logistischer Stützpunkt», so der türkische Nahostkorrespondent Kaya Heyse noch im vergangenen Jahr. Auch deckten sich die Ziele des IS von Anfang an zumindest teilweise mit denen der Türkei: «Wenn Sie sich ansehen, wen der IS bekämpft, dann gehören die Kurden zu seinen grössten Feinden.» Auch das gemeinsame Interesse am Sturz des Assad-Regimes liess die Koalition für viele logisch scheinen. Doch spätestens seit die Kampfflugzeuge der westlichen Anti-IS-Koalition vom türkischen Luftstützpunkt Incirlik starten dürfen, ist es mit der vermuteten Freundschaft vorbei.
Tatsächlich greift inzwischen auch Ankara immer wieder IS-Stützpunkte im Nordirak an. Bei Grossrazzien werden IS-Kämpfer medienwirksam abgeführt. Erst gestern früh traf es eine Istanbuler Zelle. All das aber beruhigt jene nicht, die der türkischen Regierung ihren Kurswechsel bis heute nicht abnehmen.
Geheimdienst greift nicht ein
Der jüngste Anschlag gilt Kritikern als erneuter Beweis dafür, wie viel Bewegungsfreiheit der IS in der Türkei nach wie vor hat. «Die Regierung tut nichts gegen die Terroristen», sagte der Sozialdemokrat Eren Erdem gestern im Parlament. «Sehen Sie her», so der oppositionelle Politiker, der mit einem Stapel kopierter Geheimdienstberichte erschienen war. «In diesem Fall hier hat ein Mann seit 2011 ganze 1800 Kämpfer von der Türkei nach Syrien gebracht. Er hat sie transportiert und in Hotels in Grenznähe untergebracht», erläutert Erdem. «All das wurde vom Geheimdienst registriert. Aber kein einziger Einsatz ist daraus erfolgt.»
Was also ist der IS für die Türkei heute: Freund oder Feind? Die Regierung sei in dieser Frage selbst unentschlossen, glaubt der Istanbuler Nahostexperte Sedat Laciner. «Die Priorität der Türkei ist immer noch, die Kurden zu stoppen und das Assad-Regime in Syrien zu stürzen. Der Kampf gegen den IS kommt erst danach.» Die Politik gegen ihn sei deshalb voller Gegensätze und Inkonsequenzen, sagt er.
Glasklar erscheint dagegen die Strategie des IS. «Wir befinden uns im Krieg mit der Türkei», heisst es in dem E-Mail-Verkehr zwischen einem syrischen und einem türkischen Terroristen, den die Polizei jüngst abfing. «Trefft die Türken, wo immer ihr könnt», ordnet der Syrer darin an. «Wir werden euch so viele Selbstmordattentäter über die Grenze schicken, wie ihr braucht.»