Paukenschlag in der letzten Woche vor den Präsidentenwahlen in Brasilien: Nachdem Amtsinhaberin Dilma Rousseff ihren Vorsprung auf die Sozialistin Marina Silva ausbauen konnte, sackte die Börse in São Paulo um fünf Prozent ab. Ein US-Dollar kostet jetzt so viel wie zuletzt 2008.
Dass die Präsidentin nicht die Favoritin der Wirtschaft ist, hat für den Politologen Demetrio Magnoli einen simplen Grund. Die seit zwölf Jahren regierende Arbeiterpartei habe mit ihrer Wirtschaftspolitik in den Jahren mit anhaltend hohem Wachstum das strukturelle Defizit des Landes nicht beseitigt.
«Ausgerechnet jetzt, nach Jahren des Booms, müssen wir von einem verlorenen Jahrzehnt reden», sagt er. In Schieflage ist tatsächlich vieles. Der Aussenhandel kennt nur zwei Schwerpunkte, den südamerikanischen Regionalmarkt Mercosur und China. Aber das kriselnde Argentinien ist als Abnehmer von brasilianischen Industrieprodukten fast ganz weggefallen, Chinas Wirtschaftsmotor brummt nicht mehr so stark. Das Land kauft viel weniger brasilianische Rohstoffe. Der Preis für Eisenerz, eines der wichtigsten Ausfuhrprodukte der Brasilianer, ist in anderthalb Jahren um 40 Prozent gesunken.
Deutschland billiger als Brasilien
Ansonsten ist Brasilien isoliert. In Europa und in den USA ist seine Wirtschaft nicht konkurrenzfähig. Veraltete Technologien, hohe Steuern und ein stark überhöhter Wechselkurs wirken wie eine Verkaufsbremse. Es ist billiger, in Deutschland zu produzieren als in Brasilien. Über 200 Millionen Brasilianer bilden zusammen zwar einen bedeutenden Heimmarkt. Aber die Haushalte sind längst bis ans Limit verschuldet, und dieser auf Pump gründende Konsumzyklus geht zu Ende.
Der Arbeitsmarkt bekommt das zu spüren: Bis zum Jahresende werden allein in São Paulo 100'000 Stellen wegfallen, schätzt der Industriellenverband.
Auch Ausländern entfährt mitunter ein Stossseufzer, wenn sie auf die Wirtschaftsentwicklung Brasiliens zu sprechen kommen. «Seit ich ein Kleinkind bin, ist Brasilien ein Markt an der Schwelle zu einem Industriestaat.» Dort stehe das Land heute noch, sagt Peter Heusser vom schweizerischen Umwelttechnikverband am Rande einer Industriemesse.
Er ist in São Paulo, um die Technologie von Schweizer Unternehmen in Abfallverwertung und Recycling zu zeigen. Ein brandaktuelles Thema, weil die Kehrichtverwertung neuerdings gesetzlich vorgeschrieben ist. Bevor es Bestellungen hagelt, muss Heusser lokale Partner suchen, damit die von ihm vertretenen Schweizer Firmen nicht im Dschungel des brasilianischen Regelwerks und der Geschäftsgepflogenheiten hängen bleiben.
Falsche Strategie der Arbeiterpartei
Bis auf wenige Ausnahmebranchen wirkt Brasiliens Wirtschaft heute so, als wären die 1960er-Jahre nie zu Ende gegangen: Die Infrastruktur ist veraltet, staatliche Interventionen in den freien Wettbewerb immer stärker ein Hindernis für die Expansion, die hohen Leitzinsen sowieso.
Jetzt rächt sich, dass die Regierung der Arbeiterpartei immer nur das gefördert hat, was ihr kurzfristige politische Renditen sicherte – und die Macht: Auf Pump finanzierter Binnenkonsum und unverarbeitete Rohstoffe für den Export, erklärt der Politologe Magnoli. «Es muss wieder Innovation geben», fordert er. «Anreize für Investitionen, die das technologische Niveau anheben, die Produktivität steigern, Nischen für unsere Produkte entwickeln und unsere internationalen Märkte diversifizieren.»
Nur zeige Dilma Rousseff dafür weder Verständnis noch Bereitschaft zu Reformen, die solche Investitionen anziehen könnten, kritisiert er. Marina Silva verspricht dagegen den Wandel. Deswegen stürzt die Börse ab, wenn Rousseff in den Umfragen zulegt.