Die Favela Santa Marta in Rio Janeiro galt lange Zeit als der grosse Wurf der brasilianischen Sicherheitspolitik. Es war das erste Armenviertel, aus dem die Polizei die Drogenhändler vertrieben und deren Gewaltregime über die 5000 Einwohner beendet hatte. Dann sind die Touristen gekommen. Heute klettern 2000 Besucher pro Monat die steilen Treppen des Armenviertels hoch und lassen sich erklären, wie es sich in einer Favela lebt. Reiseführer, Souvenirläden und fünf Herbergen Sorgen für Arbeit, Einnahmen und Umsatz in Santa Marta.
Schutz der olympischen Gäste geht vor
Aber die Idylle bröckelt, wie Veronica Moura vom Nachbarschaftsrat erklärt. Am Anfang hatte die Polizeiwache 200 Beamte, heute sind es nur noch 100. Zurzeit sind es noch weniger, weil Polizisten zum Schutz des Olympia-Publikums abgezogen worden sind.
Die Polizeipräsenz rund um die Uhr in der Favela ist teuer. Als der Bundesstaat Rio de Janeiro den Finanznotstand ausrief, wurde umgehend das Sicherheitspersonal reduziert. Moura argwöhnt, dass das Befriedungsprogramm in den Favelas nach den Olympischen Spielen wohl ganz gestrichen werde: Einerseits um zu sparen, andererseits stünden die Behörden nach den Spielen nicht mehr im Blick der internationalen Öffentlichkeit.
Verdoppelung der Gewaltverbrechen
«Den Behörden sind wir Favela-Bewohner eigentlich egal», sagt Moura. Wie egal, verkörpert der Satz eines ehemaligen Bürgermeisters der Stadt Rio de Janeiro, wonach nur der Abwurf einer Atombombe auf die Armensiedlungen das Problem der Favelas wirklich lösen könne.
Moura, die auf eigene Rechnung Touristen durch Santa Marta lotst, blickt verunsichert in die Zukunft. Wenn in der Favela wieder die alten Zustände mit Bandenkriegen und vielen Toten Einzug hielten, wäre sie existentiell bedroht, denn Touristen würden dann keine mehr kommen.
Schon heute gibt es eindeutige Hinweise, dass sich die Sicherheitslage in den Armenvierteln rasch verschlechtert. Die Drogenhändler zieht es in jene Favelas zurück, aus denen sie die Polizei einst vertrieben hatte. So sind im ersten Halbjahr 2016 in Rio doppelt so viele Menschen bei Gewaltverbrechen ums Leben gekommen als im zweiten Halbjahr 2015. Noch grösser ist die Zunahme des Blutzolls bei der Polizei.