SRF: Weiss man, ob schon Mädchen verkauft wurden?
Bernd Hemingway von der Internationalen Organisation für Migration: Wir wissen momentan nichts über den Verbleib der Mädchen. Alles, was wir haben ist die Erklärung von Boko Haram, dass sie die Mädchen verkaufen wollen.
Wer könnte denn diese Mädchen kaufen wollen?
Es gibt in der gesamten dortigen Region einen Bedarf für den Menschenhandel: Zwangsverheiratung von Mädchen und Arbeitsausbeutung. Sie werden in der Landwirtschaft oder auch im Haushaltsbereich eingesetzt. Dies geschieht auch länderübergreifend.
Die Mädchen könnten also auch nach Europa weiterverkauft werden?
Das wäre reine Spekulation. Momentan fehlen uns solche Erkenntnisse. Eigentlich sind es mehr kriminelle Netzwerke, die in diesen Bereichen ihr Unwesen treiben.
Boko Haram hat 200 Mädchen auf einen Schlag entführt. Ist die Sekte denn auch sonst im Menschenhandel tätig?
Die Erklärung der Organisation lässt nicht darauf schliessen, dass sie als Teil eines organisierten kriminellen Netzwerkes tätig geworden ist. Ihre Gründe sind eher, den jungen Mädchen die Ausbildung zu erschweren oder gar nicht erst zu ermöglichen. Gemäss unseren Erkenntnissen arbeiten im Bereich des kriminellen Menschenhandels eher kleine, interaktive Gruppen zusammen. Die sind auf Gewinn aus.
Offenbar ist Nigeria ein Land, in dem Menschenhandel weit verbreitet ist. Wieso?
Dafür gibt es verschiedene Gründe: Einerseits natürlich die verbreitete Armut, andererseits der geringe Ausbildungsstand. Das macht es kriminellen Netzwerken einfach, in dem Land junge Mädchen zu rekrutieren. Die hoffen auf eine legale Arbeit, etwa in Europa.
Das heisst, Entführungen wie diese sind eher die Ausnahme und die meisten werden einfach mit falschen Versprechen gelockt?
Ganz genau. Es finden Rekrutierungen statt. Man macht Versprechungen und stellt den Mädchen gefälschte Pässe aus. Die meisten der Mädchen begeben sich eigentlich freiwillig in diese Situation, weil sie etwas anderes erwarten. Die wirkliche Versklavung findet aber erst am Endpunkt statt, wo die Mädchen in die Arbeit oder die Prostitution gezwungen werden.
Gibt es Zahlen zu diesem Menschenhandel?
Das ist sehr schwierig. Wir arbeiten häufig mit Opfern, die in ihre Heimat zurückkehren und helfen ihnen sich zu reintegrieren. Wir hatten 2013 in der EU 16 Opfer, die wir betreut haben. Das hört sich nach wenig an. Doch die Dunkelziffer ist immens, weil es sehr schwierig ist, die Opfer überhaupt als solche auszumachen.
Wie muss man sich diese Zusammenarbeit zwischen Ihrer Organisation und den Opfern vorstellen?
Das sind Frauen, die von der Polizei aufgegriffen worden sind. In Europa werden sie zuerst stabilisiert und psychologisch betreut. Wir bereiten sie auf ihre Rückkehr vor. Das ist eine sehr sensible Arbeit.
Man hört immer wieder, dass solche Frauen dann in ihrem Heimatland von der Gesellschaft ausgeschlossen werden. Kann man etwas dagegen tun?
Wir versuchen natürlich auch mit den Gemeinschaften dort zu arbeiten oder auch die Frauen in Bereichen zu reintegrieren, wo ein solcher Ausschluss nicht so schnell stattfindet. Das ist eher in städtischen Gebieten der Fall. Die meisten der Opfer kommen aus ländlichen Gebieten. Dort ist die Reintegration wirklich schwer. Wir investieren sehr viel Zeit, eine Form zu finden, die für die Mädchen und Frauen passt.
Die USA wollen nun helfen, die entführten Mädchen zu finden. Was müsste der Norden denn generell tun, um dem Menschenhandel in Westafrika den Riegel zu schieben?
Natürlich sind entsprechende Massnahmen in der Bildung, Ausbildung, Prävention und Information nötig. Es müsste eine funktionierende Zivilgesellschaft aufgebaut werden, die auch in diesen Bereichen entsprechend tätig wird. Die Mädchen müssen darüber aufgeklärt werden, dass die Versprechen nicht eingehalten werden. Nicht zuletzt ist es auch eine Frage der Entwicklungszusammenarbeit, so dass sich die Armut verringert. Es gibt also noch eine Menge Arbeit.
Das Interview führte Roman Fillinger.