Bei der Parlamentswahl in der Türkei hat die islamisch-konservative Regierungspartei AKP überraschend die absolute Mehrheit zurückerobert. Die Partei von Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan kann damit künftig wieder alleine regieren, wie die staatliche Nachrichtenagentur Anadolu nach Auszählung fast aller Stimmen meldete.
Erdogan hatte diese zweite Wahl innerhalb von nur fünf Monaten angesetzt, nachdem die AKP im Juni die absolute Mehrheit verloren und keine Regierungskoalition zuwege gebracht hatte. Die Türkei gilt als Schlüsselland bei der Bewältigung der Flüchtlingskrise, weshalb die Wahl auch in Europa aufmerksam verfolgt wurde.
Pro-kurdische Partei schafft Parlamentseinzug
Die AKP kommt nach den vorläufigen Ergebnissen auf fast 50 Prozent der Stimmen – nach 40,9 Prozent bei der Wahl im Juni. Damit gewinnt sie 316 der 550 Sitze in der Nationalversammlung in Ankara.
Auf den zweiten Rang kommt die Mitte-Links-Partei CHP mit unverändert rund 25 Prozent der Stimmen, gefolgt von der ultrarechten MHP mit rund 12 Prozent. Äusserst knapp schaffte die pro-kurdische HDP die Zehnprozenthürde und zieht damit erneut in das Parlament ein.
Reichen wir einander die Hände, um eine neue Verfassung zu schaffen
Ministerpräsident und AKP-Chef Ahmet Davutoglu versprach bei seiner Siegesrede im Partei-Hauptquartier in Ankara vor Tausenden Anhängern, an einer neuen Verfassung zu arbeiten. «Reichen wir einander die Hände, um eine neue Verfassung zu schaffen», sagte er. Erdogan will per Verfassungsreform ein Präsidialsystem mit sich selber an der Spitze einführen.
Davutoglu versprach, die Rechte aller Bürger und die Meinungs- und Glaubensfreiheit zu schützen. «Die Feinde der neuen Türkei haben einmal mehr verloren», sagte er. «Die Wahl vom 1. November war das Referendum für die neue Türkei. Ihr habt gezeigt dass die alte Türkei tief begraben ist und nie wieder zurückkehren wird.»
Kritik an «Massakerpolitik»
Der Co-Vorsitzende der HDP, Selahattin Demirtas, kritisierte: «Von einer gleichberechtigten Wahl kann keine Rede sein.» Wegen der Angriffe und Anschläge auf die HDP habe die Partei keinen Wahlkampf führen können.
Dass sie dennoch erneut die Zehnprozenthürde überwunden hat, wertete Demirtas als Erfolg. Er kritisierte eine «Massakerpolitik» der politischen Führung in Ankara. Oppositionsführer Kemal Kilicdaroglu sprach wegen der Gewalt im Land von «aussergewöhnlichen Verhältnissen» bei der Wahl.
«Ohne Lösung der Kurdenproblematik kein Frieden»
«Damit verfügt die AKP nicht über genügend Stimmen, um allein die Verfassung in ihrem Sinne – hin zu einem noch stärkeren Präsidenten – zu ändern», sagt SRF-Korrespondentin Ruth Bossart.
Das zunehmend autokratische Auftreten Erdogan habe diesem nicht geschadet – auch wenn die Opposition genau das gehofft habe. Im Gegenteil, vielmehr scheine es so, dass «Erdogans Kalkül aufgegangen ist, mit der Eskalation des Kurden-Konflikts Stimmen aus dem rechten Spektrum zu holen», so Bossart.
Allerdings müsse sich Erdogan trotz seines Sieges künftig darum bemühen, die tiefen politischen Gräben im Land zu überwinden und einen Schritt auf die Kurden zuzugehen. «Sonst gibt es keinen Frieden in der Türkei», so die SRF-Korrespondentin.
Knapp 400'000 Sicherheitskräfte im Einsatz
Der Wahlkampf war von Gewalt überschattet. Am Wahltag selbst wurden zunächst keine schweren Anschläge oder Gefechte gemeldet. Seit im Juli eine Waffenruhe zusammenbrach, eskaliert der Konflikt mit der verbotenen kurdischen Arbeiterpartei PKK wieder.
Zudem wurde das Land von Anschlägen erschüttert, die der Terrormiliz IS angelastet werden. Beim schwersten Anschlag am 10. Oktober in der Hauptstadt Ankara wurden mehr als 100 Menschen getötet. Die Staatsanwaltschaft machte den IS verantwortlich, der sich allerdings nicht zu der Tat bekannte.
Nach Angaben des Innenministeriums waren am Sonntag 385'000 Sicherheitskräfte im Einsatz, um die Abstimmung zu schützen. Gut 54 Millionen Staatsbürger waren zur Stimmabgabe aufgerufen. Die 2,9 Millionen wahlberechtigten Türken mit Wohnsitz im Ausland konnten bereits früher in Botschaften und Konsulaten abstimmen.