Es regnet an diesem Mittag. Eine Gruppe junger Schüler trottet fröhlich die Rue Armand Carrel hinunter. Als die 12- bis 14-Jährigen das Mikrofon entdecken, werden sie übermütig. Sami stellt sich als professioneller Fussballer vor. Alle spassen und kämpfen ums Mikrofon. Die Stimmung ist ausgelassen.
Auf die Frage, ob sie an der landesweiten Schweigeminute zum Gedenken an die Opfer der Anschläge von vergangener Woche teilgenommen haben, kommt die Antwort wie aus der Kanone geschossen: «Nein!»
Die Nachricht hatte für Aufsehen gesorgt: Eine ganze Reihe von jungen Muslimen hatte sich in der Schule geweigert, mit den anderen eine Schweigeminute für die Opfer der Anschläge abzuhalten.
Wenn in Palästina etwas passiert, dann macht man auch keine Schweigeminute.
Darauf angesprochen, weichen viele auf den Strassen des 19. Arrondissement einer klaren Antwort aus. Doch die Schüler des Collège Pailleron sagen frisch von der Leber weg, was sie denken: «Wenn in Palästina etwas passiert, dann macht man auch keine Schweigeminute.» Sie fänden es nicht richtig, sich über den Propheten lustig zu machen.
Eine Gruppe etwas älterer Schüler des nahen Lycée Henri Bergson relativiert die Aussage der jungen Schüler. Drei Viertel der Muslime hätten die Schweigeminute eingehalten, sagt der 18-jährige Ahmed.
«Es gibt eine Grenze für alles»
Doch viele Muslime sind hin- und hergerissen. Sollen sie sich mit den Opfern der Anschläge solidarisch zeigen? Oder mit dem Koran, der es verbietet, den Propheten zu verspotten?
Ein Mädchen, das seine Haare mit einem langen Schaal bedeckt, kommt eben aus der Bibliothek. Sie sagt, sie respektiere die Meinungsfreiheit. «Aber gewisse Dinge darf man nicht tun. Es gibt eine Grenze für alles.»
In einer einfachen Brasserie bei der Metrostation Bolivard sitzt Kerry an einem winzigen Holztisch. Sie stammt aus Grossbritannien, lebt aber seit 20 Jahren im 19. Arrondissement. Die Spannungen zwischen den religiösen Gruppen würden immer schärfer, erzählt sie.
Es gibt einen Druck, den viele Leute fast nicht mehr aushalten.
Kerry hat einen achtjährigen Sohn. «Gestern wollte er in der Schule herausfinden, was Charlie Hebdo ist», erzählt sie. Er habe sich Karikaturen im Internet angeschaut. «Da er ein guter Zeichner ist, kopierte er einige Bilder auf ein Blatt Papier.» Die Lehrerin habe ihm die Zeichnungen sofort weggenommen und Kerry am Abend angerufen, um sie zu fragen, ob sie wisse, was ihr Sohn da mache.
Viele unausgesprochene Vorwürfe
Das Klima ist gereizt. Schon ein kleiner Funken kann zu einer Explosion führen. Über 50 Muslime seien im Quartier angegriffen worden, erzählt Kerry. Es gebe Leute, die auf der Strasse rufen «Ich bin ein Terrorist!». Das heisse doch, sie fühlten sich ausgegrenzt, verloren. «Die Leute haben Angst. Wie haben hier eine Art Kleinkrieg auf der Strasse.»
Serge ist Jude. Er kam im Leben weit herum, war Taxifahrer, Küchengehilfe und Manager. Im Moment ist er ohne Arbeit. Das Zusammenleben im 19. Arrondissement sei sehr schwierig geworden, sagt auch er. Es gebe viele Spannungen und unausgesprochene Vorwürfe. «Das können Aggressionen sein, Beleidigungen, ein verachtender Blick. Es gibt einen Druck, den viele Leute fast nicht mehr aushalten.»
Am letzten Sonntag hatte Frankreich Einigkeit demonstriert. Doch hier im 19. Arrondissement bekommt diese Einigkeit immer mehr Risse.