SRF News: In der Talkshow von Anne Will erlebten die Zuschauer eine Angela Merkel, die ihre Politik mit ungewohnt viel Herz verteidigte. Wie haben Sie den Auftritt der Bundeskanzlerin empfunden?
Heribert Prantl: Es war eine neue Angela Merkel. Es war eine Merkel, die Empathie erkennen lässt. Die ihr Herz öffnet. Man ist gewohnt, dass sich die Kanzlerin sehr wenig bewegt, in gestelzten Formulierungen redet. Sie war nun auch gestern nicht jemand, der eine emotionale Rede hingelegt hätte. Aber so eine Regierungserklärung hat Deutschland schon lange nicht mehr gesehen. Normalerweise begründen Kanzler ihre Politik im Bundestag. Aber hier wurde – und zwar auf emotionale Weise – die Politik Merkels in einer Talkshow begründet. Sehr ungewöhnlich in der Form, sehr ungewöhnlich in der Wahl des Ortes, und auch sehr ungewöhnlich, was die Politik betrifft.
Ungewöhnlich waren aber nicht die Antworten, denn konkret wurde Merkel nicht. Sie sagte nicht, wie die Gemeinden die vielen Flüchtlinge unterbringen sollen und wie die Integration gelingen soll.
Das stimmt. Sie hat versucht, die grossen Koordinaten zu ziehen. Sie sagte, sie sei zuständig für die aussenpolitischen Dinge. Sie werde sich um Syrien kümmern, sie werde mit Putin reden, sie werde mit Obama reden. Sie tue hier etwas dafür, dass die grossen Flüchtlingsströme dünner werden. Innenpolitisch gebe es viel zu tun. Das konkretisierte sie allerdings nicht. Das überlässt sie ihrem Kanzleramtsminister Peter Altmaier.
Aussenpolitisch verspricht sie vieles, wozu sie eigentlich die Einwilligung anderer Länder bräuchte, etwa für die faire Verteilung der Flüchtlinge auf Europa. Läuft sie damit nicht Gefahr, Menschen zu enttäuschen, ohne dass sie es in der Hand hat?
Ja, aber so funktioniert Aussenpolitik. Aussenpolitik macht man nicht alleine. Da kann man werben. Und Angela Merkel geniesst eine hohe internationale Reputation. Diese setzt sie ein. Womöglich setzt sie sie aufs Spiel. Aber – und das war für mich die Erkenntnis der Talkshow von gestern Abend: Sie wirft ihre Person hinein in diese Frage. Ich glaube, ihr ist klar, dass ihre Kanzlerschaft mit der Lösung dieses Problems steht und fällt. Und wie ich ihre Äusserungen interpretiere, hat sie vielleicht das Gefühl, ich habe zehn Jahre im Amt hinter mir, das die grösste aller Aufgaben, die sich mir gestellt haben. Jetzt werfe ich mich bei allem Risiko voll und ganz rein.
Ihre grosse Aufgabe nennen sie es, doch Merkels Kurs ist in ihrem Kabinett nicht unumstritten. Kann sie ihre ambitiöse Flüchtlingspolitik mit der Regierungsmannschaft, die sie jetzt hat, überhaupt durchziehen?
Nun ja, sie verlagert den Schwerpunkt der Aufgaben vom Innenministerium und von dem sehr matten und lustlosen Thomas de Maizière auf den Kanzerlamtsminister Altmaier. Er ist ein kluger Fuchs. Einer der auch mit der Zivilgesellschaft gut zusammenarbeiten kann. Wenn es einer schafft in diesem Kabinett, dann er. Merkel hat ihre Partei nicht gänzlich hinter sich. Das macht die Aufgabe besonders knifflig. Aber sie hat sich entschlossen, es zu wagen.
In der Öffentlichkeit gab es in den letzten Wochen immer wieder viel Unterstützung für Merkels Kurs, dann aber auch wieder sehr viel Kritik. Wird es ihr auf die Dauer gelingen, die Deutschen zu überzeugen?
Wenn sie den Auftritt von gestern noch ein paar Mal wiederholt und dabei konkreter wird, denke ich schon. Es geht aber nicht allein darum, dass sie überzeugt, sondern darum, dass ihre Regierung einen grossen Plan vorlegt. Eine konzertierte Aktion. Es geht ja nicht nur um die Bundesregierung, es geht auch um die Landesregierungen, die Wirtschaft, die Industrie- und Handwerksverbände, die Wohlfahrtsverbände und die Kirche. Sie alle müssen an einen Tisch und ihren Beitrag leisten. Dafür braucht es einen Plan, bei dem alle zusammenwirken. Diesen Plan gibt es noch nicht.
Der Fehler Merkels, wenn man denn von einem Fehler sprechen mag, war vielleicht nicht diese humane Entscheidung in einer hochangespannten Situation an der ungarischen Grenze. Sondern, dass den grossen Worten bisher keine grossen und klaren Taten folgten. Die deutsche Bevölkerung, die im Vergleich zu vor 30 Jahren schon flüchtlingsfreundlicher geworden ist – wie ich meine – wartet auf den Plan, der die Zuversicht der Menschen stärkt, dass diese ungeheuer hohen Flüchtlingszahlen tatsächlich zu schaffen sind.
Das Gespräch führte Roman Fillinger.