In Tunesien ist mit der zweiten Runde der Präsidentenwahl eine wichtige Phase der Demokratisierung des nordafrikanischen Landes zu Ende gegangen, die mit der sogenannten Jasmin-Revolution vor vier Jahren den arabischen Frühling eingeleitet hatte.
In der ersten freien Präsidentenwahl seit der Unabhängigkeit 1956 erhielt der langjährige Regierungspolitiker Beji Caïd Essebsi 55,68 Prozent der Stimmen. Gemäss dem vorläufigen amtlichen Resultat erreichte sein Konkurrent, der bisherige Übergangspräsident Moncef Marzouki, 44,32 Prozent.
Der 88-jährige Essebsi hatte im November schon in der ersten Runde die meisten Stimmen errungen, musste aber gegen Übergangs-Staatschef Marzouki in die Stichwahl.
«Die beiden Politiker stellen den Grundkonflikt dar, der Tunesien seit der Revolution prägte: Welche Rolle soll der Islam spielen?», erklärt SRF-Auslandredaktor Daniel Voll. Nun habe sich mit Essebsi die säkulare Seite durchgesetzt.
Überfall auf Wahllokal
Noch am Vorabend der Stichwahl schossen mehrere Männer auf ein Wahllokal in der Region Kairouan. Laut dem Verteidigungsministerium töteten Soldaten, die das Lokal schützen sollten, einen Angreifer und nahmen drei weitere fest. Islamisten hatten gedroht, die Wahl zu stören. Insgesamt waren rund 100'000 Soldaten und Polizisten zum Schutz der Wahl abgestellt.
Im Wahlkampf war es unter anderem darum gegangen, ob ehemalige Weggefährten Ben Alis in die tunesische Politik zurückkehren sollen. Stellvertretend dafür steht der ehemalige Parlamentspräsident Essebsi. Um den Verdacht alter Seilschaften loszuwerden, hatte er sich öffentlich von der Korruption und dem Machtmissbrauch unter der 24-jährigen Herrschaft Ben Alis distanziert.
Interimspräsident Marzouki warnte dagegen vor einem Rückschlag für die hart erkämpften Reformen bei einem Comeback von Vertretern der alten Führung. Allerdings hat der Staatspräsident in Tunesien nur eingeschränkte Befugnisse, etwa in der Aussen- und Verteidigungspolitik.
Musterknabe Tunesien?
Das Land gilt inzwischen als Musterbeispiel für die Demokratiebewegung in Nordafrika: Es gibt eine neue Verfassung, ein neues Parlament wurde gewählt, und die Politik zeichnet sich durch Kompromisse zwischen den gesellschaftlichen Gruppen aus.
«Nun geht es darum, dass sich diese neuen Institutionen bewähren», sagt SRF-Redaktor Voll. Präsident, Parlament und Regierung müssten Lösungen für die grossen wirtschaftlichen und sozialen Probleme des Landes suchen. Auch müsse die Politik wieder den Zugang zu den jungen Menschen finden. Diese hätten den Umsturz 2011 massgeblich geprägt, doch jetzt hätten sie sich kaum an der Präsidentenwahl beteiligt.
Die neue Führung ist gefordert: die wirtschaftliche und soziale Lage des Landes hat sich seit der Revolution 2010 nicht verbessert. Rund 15 Prozent der etwa elf Millionen Tunesier leben in Armut. Fast täglich gibt es Streiks. Die Arbeitslosigkeit vor allem bei jungen Tunesiern ist hoch und die Staatskassen sind leer.
Entscheid für mehr Weltoffenheit
Für SRF-Korrespondent Michael Gerber bedeutet das Wahlergebnis in erster Linie, «dass sich eine Mehrheit der Wählenden eine weltoffene, weltliche entgegen einer konservativ religiös geprägten Gesellschaftsordnung wünscht.»
Damit trage die neue Führung eine enorme Verantwortung dafür, auf die religiösen Kräfte zuzugehen. Diese befürchten nämlich, ausgegrenzt zu werden, wie sie dies bereits unter den früheren autoritären Regimes Ben Ali und Bourguiba erlebt hatten. «Hier ist der neue Präsident gefordert. Er muss auszugleichen zwischen den politischen Lagern um eine stabile Ordnung zu bekommen.»