Mit dem Austritt Grossbritanniens aus der EU verliert der grosse Staatenbund ein wichtiges Mitglied. Die Idee eines geeinten Europas in Frieden und Wohlstand hat einen empfindlichen Schlag abbekommen. Erklärungen zu den Ursachen und Optionen von Paul Nolte, Professor für Zeitgeschichte an der Freien Universität Berlin.
SRF News: Ist das Versprechen von Frieden und Wohlstand nicht mehr Grund genug, um in der Europäischen Union zu bleiben?
Paul Nolte: Frieden ist ein Ziel, das vielen Menschen in Europa vielleicht zu selbstverständlich geworden ist. Wohlstand empfinden manche als prekär. Das zeigt sich beim Brexit und ähnlichen Rissen, die in den letzten Jahren durch die europäischen Gesellschaften gegangen sind – verbunden mit einem aufsteigenden Populismus.
Es gibt sehr deutliche soziale und ökonomische Spaltungen und gerade in England auch Klassenspaltungen: Die Wohlhabenden und Mobilen profitieren gut von der Globalisierung und gehen bei den Öffnungsprozessen der EU vorbehaltlos mit. Den anderen fällt das sehr viel schwerer. Sie ziehen sich auf den Nationalismus und die Versprechungen der eigenen Nation zurück.
Hat die EU somit ihre Versprechen zumindest teilweise nicht eingelöst?
Die EU hat vielleicht bestimmte Versprechen nicht eingelöst, aber auch die Nationalgesellschaften haben das nicht getan. Die EU mit Brüssel als Chiffre für den grossen bürokratischen Apparat ist in Vielem zu einer Projektionsfläche geworden. Und zwar für die Ängste vor Ort, die man auf einen möglichst weit entfernten Sündenbock abwälzt.
So drückte sich etwa die Unzufriedenheit der Briten über den eigenen National Health Service im Argument aus, es fliesse zu viele Geld nach Brüssel ab. Dabei hat die EU mit diesen nationalen Institution überhaupt nichts zu tun.
Brüssel als Sündenbock, der Nationalstaat als heile Welt. Ist es so schlimm, wenn sich viele wieder nach dem Nationalstaat sehnen?
Es ist zunächst einmal schade, weil sehr viel dafür spricht, dass wir in einer offenen Welt ohne Grenzen auch profitieren: Menschen können reisen, es ergeben sich ökonomische Chancen, weil Verständigungsprozesse und letztlich auch ein gesellschaftliches Fundament von Frieden wachsen können. Vielleicht könnte man sich auch andere Formen der Zusammenarbeit vorstellen.
Aber in einem so dicht besiedelten und eng verflochtenen Kontinent wie Europa geht es dann doch nur schwer anders, wie die Erfahrungen der letzten Jahrzehnte zeigen. Und auch hochentwickelte Nicht-EU-Länder wie die Schweiz oder Norwegen haben ein dichtes Beziehungsgeflecht, das sie in die EU und die offenen Märkte integriert.
Ist die EU überhaupt in der Lage, auf die veränderten Bedürfnisse der einzelnen Nationalstaaten einzugehen?
Das ist eine schwierige Frage. Man muss wohl noch ein paar Wochen oder Monate abwarten, welche Dynamiken sich aus diesem epochalen Referendum entwickeln. Was Europa angeht, bin ich zunächst einmal skeptisch. Es gibt zwei Varianten: Eine starke Verdichtung, quasi ein heilsamer Schock als Durchbruch zu den Vereinigten Staaten von Europa. Dies halte ich aber angesichts der sehr heterogenen Interessenkonstellation in Europa für nicht sehr wahrscheinlich, wie etwa Polen und andere postkommunistische Länder belegen.
Die anderen Variante wäre eine flexiblere Struktur, die Europa stärker auflockert, um Vorbehalten wie jetzt beim Brexit entgegenzukommen. Doch auch das ist nicht der richtige Weg. Im Grunde genommen müsste man versuchen, die verschiedenen Ebenen Europas etwas stärker aufzubrechen. Das ist wesentlich komplizierter, wie Schengen, Binnenraum, Erasmus-Studienaufenthalte und viele andere Beispiele zeigen. Bürgern, die mit dem «Moloch Europa» unzufrieden sind, müsste man erklären: Europa ist nicht ein Staat, sondern ein Geflecht von unterschiedlichen Netzen, die sich auf komplizierte Weise verweben.
Das Hauptproblem ist also nicht die Krise oder die Struktur der EU, sondern der Populismus und die Krise in den europäischen Gesellschaften. Das hat der Brexit klar gezeigt.
Das Gespräch führte Nicoletta Cimmino.