Wie erklären Sie sich die widersprüchliche Strategie der ukrainischen Regierung?
Andrej Kurkow: Ich glaube, es gibt keine Strategie. Die Regierung wartet einfach, bis die Leute erfroren oder müde sind. Sie versteht nicht, dass diese Situation nur mit einem Dialog gelöst werden kann.
Wäre es denkbar, dass die Hoffnung der Regierung aufgeht und die Demonstranten einfach aufgeben?
Die Leute sind müde von der heutigen Regierung und der Regierungspartei. Den Leuten, die in Kiew und in der Westukraine leben, ist die Regierungspartei fremd. Dass Janukowitsch beim Gipfel in Vilnius das Abkommen mit der EU nicht unterschrieben hat, hat die Menschen enorm enttäuscht. Und dies hat die Proteste ausgelöst.
Wie ist die Situation der Protestierenden in anderen ukrainischen Städten?
In der Westukraine unterstützt die Polizei die Bevölkerung, auch die lokalen Regierungen tun dies. In einer Stadt weht sogar die europäische Fahne auf dem Rathaus. Hier hat man das Gefühl, man sei schon in Europa. Doch es stellt sich die Frage, ob die Proteste in Kiew einen Einfluss auf die Regierung haben. Ich habe den Eindruck, dass Janukowitsch auf niemanden hört.
Sie befürchten, dass die bislang friedlichen Proteste eskalieren könnten?
Ja. Wenn Europa und die USA viel Kritik anbringen, bekommt Janukowitsch das Gefühl, dass er bereits vom Westen isoliert sei. Er wird deshalb viel aggressiver vorgehen. Das Problem ist auch, dass niemand von der Regierung zurückgetreten ist. Der Polizeiminister, der für den Angriff auf Studenten vor drei Wochen verantwortlich ist, regiert einfach weiter. Er ist auch verantwortlich für den Versuch, den Maidan-Platz in Kiew zu räumen.
Auslöser dieser Proteste war, dass die Regierung eine Annäherung an die EU brüsk gestoppt hat. Jetzt fordert Ministerpräsident Asarow 20 Millionen Euro von der EU. Dann, sagt er, könne man das Abkommen mit Brüssel doch noch unterschreiben. Geht es der Regierung wirklich nur ums Geld?
Am Anfang ging es nur ums Geld, weil die wirtschaftliche Lage des Landes katastrophal ist. Einige Lehrer in der Provinz haben ihre Gehälter seit Anfang Oktober nicht erhalten. Im Budget klafft ein Loch von 30 oder mehr Milliarden Hrywnja. Die finanziellen Probleme dürften der Hauptgrund für Janukowitsch gewesen sein, sich von Russland wegzubewegen. Aber als Europa bereit war, den Vertrag zu unterschreiben, bekam er Angst. Sicher, er hat mit beiden Seiten gesprochen und Putin mehrmals getroffen. Aber mit Putin versucht er schon seit drei Jahren zu verhandeln. Ohne Erfolg.
Was versprechen Sie sich denn von einem Abkommen mit der EU?
Für die Ukraine gibt es nur einen Weg – und das ist der nach Europa. Wir sind schon viel demokratischer als Russland. Wir haben keine Einheits-Regierungspartei, die alles kontrollieren kann. Es gibt Ukrainer, die russisch sprechen und Ukrainer, die ukrainisch sprechen.
Die Politik Russlands gegenüber der Ukraine war schon immer aggressiv.
Manche Journalisten schreiben, dass die Ostukraine pro-russisch sei. Das ist falsch. Die ostukrainischen Industriegebiete wurden durch die Boykotte und die Embargos Russlands gegenüber ukrainischen Gütern schwer getroffen. Die Leute dort sprechen zwar russisch, aber sie fühlen sich als ukrainische Bürger. Und auch sie wollen diese Zollunion mit Russland nicht. Die Politik Russlands gegenüber der Ukraine war schon immer aggressiv. In den letzten drei Jahren ist sie aber richtiggehend kriegerisch geworden.
Wieso hat es die politisch organisierte Opposition nicht geschafft, sich an die Spitze dieser Bewegung zu stellen?
Das Hauptproblem ist, dass es drei Oppositionschefs gibt. Jeder hat seine eigenen Ideen, seine eigene Ziele. Sie haben es nicht geschafft, dem Volk zu zeigen, dass sie sich einig sind und dass sie die Proteste nicht für sich selbst nutzen, sondern zum Wohl des Landes.
In einem Artikel haben Sie geschrieben, diese Proteste seien Ausdruck einer veränderten Psyche der Ukrainer. Wie sieht sie aus, die neue ukrainische Psyche?
Die Leute sind politisch und sozial engagierter. Mit den neusten Protesten begannen Studenten in der Westukraine. Diese Generation hat nicht an der orangen Revolution teilgenommen. Sie sind zu jung. Man spricht von der zweiten postsowjetischen Generation. Die jungen Leute zeigen, dass sie politisch aktiv sind. Und sie wissen, wie sie leben möchten.
Das Gespräch führte Roman Fillinger.