Der Bürgerkrieg in Syrien und die Kämpfe im Nachbarland Irak könnten nach Einschätzung von UNO-Ermittlern rasch auf die gesamte Region übergreifen. «Ein regionaler Krieg im Nahen Osten rückt immer näher», warnte der Leiter der Syrien-Untersuchungskommission, Paulo Sérgio Pinheiro, am Dienstag vor dem UNO-Menschenrechtsrat in Genf.
Die grösste Gefahr gehe von extremistischen Terrorgruppen wie der Miliz Islamischer Staat im Irak und in Syrien (Isis) aus, die in beiden Ländern mit brutalster Gewalt gegen Angehörige anderer Religionsgruppen vorgehe, heisst es im jüngsten Lagebericht, den der brasilianische Diplomat dem Rat vorlegte.
Wegen des fanatischen Glaubens an die Möglichkeit eines militärischen Sieges habe die Gewaltanwendung durch die verschiedenen verfeindeten Gruppen ein «beispielloses Niveau» erreicht. «Syrien steht an einem Wendepunkt, wodurch die gesamte Region bedroht ist», warnte die Kommission.
Über 160'000 Tote sei Beginn der Krise
Zugleich kritisierten die unabhängigen Experten, dass sich der UNO-Sicherheitsrat noch immer nicht in der Lage gesehen habe, der Kriegsgefahr zu begegnen. Das höchste politische Entscheidungsgremium der UNO ist von den Gegensätzen zwischen den Veto-Mächten Russland und USA im Syrienkonflikt, aber auch in der Ukraine-Krise blockiert.
Nahezu 2000 Tage nach dem Beginn der Unruhen in Syrien sind gemäss Bericht ungefähr 9,3 Millionen Syrer auf humanitäre Hilfe angewiesen. Schätzungen von Menschenrechtsaktivisten zufolge sind seit März 2011 bereits mehr als 160‘000 Menschen getötet worden.
Ansteckende Gewalt
Den grössten Blutzoll des Bürgerkrieges zahlten Zivilisten, erklärte Pinheiro. Sie seien in immer stärkerem Masse direkten militärischen Angriffe der Regierungstruppen sowie der verschiedenen Rebellengruppen ausgesetzt.
Die Kriegführung beider Seiten sei charakterisiert durch «ansteckende Gewalt und die Missachtung des menschlichen Lebens», heisst es weiter. «Die Syrer leben in einer Welt, wo es eine Entscheidung über Leben und Tod ist, ob man in der Moschee beten, auf dem Basar einkaufen oder die Kinder zur Schule schicken will.»
Kriegsverbrechen auf beiden Seiten
Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit würden auf beiden Seiten begangen. Regierung und Aufständische liessen die Bewohner ganzer Dörfer als Geiseln nehmen, um sie auszuhungern und um ihren Widerstand zu brechen. Hinrichtungen ohne Prozess und Urteil gebe es überall. Spitäler, Märkte, Schulen würden überall angegriffen, auch Kindersoldaten gebe es auf allen Seiten.
Für die grösste Zahl ziviler Opfer sind laut Bericht die Streikräfte von Bashar al-Assad verantwortlich. Das Morden geht trotz der Verhandlungen und dem Abkommen zur Vernichtung chemischer Waffen weiter.
Syrien-Vertreter der UNO weist Bericht zurück
Der Bericht beruht auf rund 3000 Interviews mit Augenzeugen und anderen Direktbetroffenen und bezieht sich vor allem auf den Zeitraum von Mitte März bis Mitte Juni.
Der syrische UNO-Vertreter Mohammed Mohammed wies die Einschätzungen als nicht glaubwürdig zurück. Die Kommission habe sich auf übertriebene oder erfundene Angaben von Regierungsgegnern gestützt.