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International «Ich bin mir sicher, dass sie mehr wissen, als sie uns sagen»

In der chinesischen Hafenstadt Tianjin geht wegen dem verheerenden Brand in einem Gefahrgutlager die Angst vor giftigen Gasen um. Die Behörden beschwichtigen, kontrollierten aber gleichzeitig die Berichterstattung, sagt ARD-Korrespondent Markus Rimmele.

SRF News: Man hört, dass in Tianjin ausländische Journalisten daran gehindert werden, über die Katastrophe zu berichten. Was wissen Sie darüber?

Markus Rimmele

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Porträt Markus Rimmele
Legende: ARD

Markus Rimmele wurde 1973 in der Nähe von Ulm geboren. Er studierte Geschichte in Sevilla, Heidelberg, London und Berlin. Während des Studiums war er für den Nachrichtensender n-tv tätig. Von 2007 bis 2011 berichtete er als freier Journalist aus Hongkong, China und Taiwan. Heute ist er ARD-Korrespondent in Schanghai.

Markus Rimmele: Es ist tatsächlich so, dass einzelne Fernsehteams daran gehindert wurden, zu filmen oder ihre Aufsager zu machen. Insgesamt aber ist es schon möglich, dort zu berichten. Es gibt kein Medienverbot oder ein konzertiertes Vorgehen gegen die Medien.

SRF News: Chinesische Medien wurden aber angewiesen, nicht selber zu recherchieren und nur Mitteilungen der staatlichen Nachrichtenagentur zu übernehmen. Was steht da alles unter Kontrolle?

Es ist ein Muster, das in China bei grossen Unglücken immer zu beobachten ist: Zunächst wird die eigene Presse praktisch gleichgeschaltet. Sie darf nur noch veröffentlichen, was auch in den staatlichen Medien berichtet wird. Die Regierung übernimmt in solchen Fällen sofort die Kontrolle über die Information im Land.

Das zeigt sich auch im Internet: Fragen die dort gestellt werden, die über die Informationen hinausführen, vielleicht aber auch völlig aus der Luft gegriffen sind, gelten als Gerücht. Und Gerüchte sind heute im chinesischen Internet offiziell nicht mehr erlaubt. Solche Seiten werden ganz schnell gesperrt. China kontrolliert also ganz stark, wie über ein solches Ereignis berichtet und auch, wie in einem eigentlich öffentlichen Raum wie dem Internet darüber diskutiert wird.

SRF News: Die Regierung spricht nach vier Tagen immer noch von über 80 vermissten Feuerwehrleuten. Das klingt so, als hätte sie zwar die Berichterstattung, aber nicht die Situation vor Ort unter Kontrolle.

Es ist eine ganz eigenartige Situation. Vier Tage hat es gedauert, bis wir erfahren haben, dass noch Dutzende Menschen vermisst sind. Das war schon lange vermutet worden, weil Angehörige protestierten, die lange nichts mehr von ihren Verwandten gehört hatten.

Die Vermissten waren Brandbekämpfer privater Firmen, die am Mittwochabend als erste vor Ort waren. Sie gehörten nicht zur regulären Feuerwehr. Bei ihnen zeigte sich die typische chinesische Informationspolitik, die nicht transparent ist und häufig nur auf Druck reagiert.

SRF News: Offenbar haben die Behörden bis jetzt keine Ahnung, welche Art von Gefahrgut, also Gifte und Chemikalien, auf diesem Areal explodiert sind. Ist das plausibel?

Ich bin mir sicher, dass sie mehr wissen, als sie uns sagen. Heute wurde immerhin bestätigt, dass es in diesem Gefahrgutlager mehrere hundert Tonnen Natriumzyanid gegeben hat. Diese Substanz ist für den Menschen äusserst gefährlich. Aber inwiefern es wirklich ausgetreten ist, in die Luft oder ins Wasser, das wissen wir nicht. Die Behörden sagen, die Luft sei in Ordnung, es seien keine erhöhten Werte gemessen worden. Aber viele Bewohner von Tianjin glauben das nicht so recht.

SRF News: Man hört, die Regierung schiesse Silberiodit-Raketen in den Himmel, um Regen zu verhindern. Was wissen sie darüber?

Die Regierung hat natürlich Angst, dass diese Substanzen durch Regen ins Grundwasser oder ins Meer gelangen. Oder, wenn sie noch in der Luft sind, auf Wohngebiete regnen. Diese Gefahr soll verhindert werden. Ob die Regierung allerdings panisch ist, weil unter Umständen ein ganz grosses Problem entsteht oder ob es nur Vorsichtsmassnahmen sind, wissen wir nicht.

SRF News: Tianjin gilt als supermoderner Vorzeigehafen. Ist dieses Unglück nun eine Blamage für die chinesische Regierung?

Das würde ich nicht so sagen. Man muss sehen: In China lebt ein Fünftel der Weltbevölkerung, wahrscheinlich 30 Prozent der weltweiten Industrieanlagen stehen in diesem Land. Dafür hält sich die Zahl der Industrieunfälle in Grenzen.

Aber natürlich bleiben Fragen offen: Wie kann es sein, dass ein solches Gefahrgutlager mit dieser Menge an hochexplosiven Materialen nur ein paar hundert Meter von Wohngebäuden entfernt ist, wo Tausende Menschen leben? Wie kann es sein, dass Feuerwehrkräfte vor Ort sind, die offenbar nicht wissen, dass sie in einem Chemikalienlager stehen oder zumindest nicht wissen, wie man dort vorgehen muss? Das alles deutet auf massive Sicherheitsmängel hin. Und wenn die dort bestehen, ist zu befürchten, dass dies auch andernorts der Fall ist.

Das Gespräch führte Samuel Wyss.

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