SRF: Im Westen werden Putins Worte als positives Signal gedeutet. Wie schätzen Sie das ein?
Boris Reitschuster: Ich bin extrem skeptisch. Während 14 Jahren habe ich ihn kennengelernt. Er tut sehr oft das Gegenteil, von dem was er sagt. Bei der Krim hat er wenige Tage vor dem Anschluss gesagt, er wolle keinen Anschluss.
Dann ist es also naiv zu glauben, dass Putin meint, was er sagt?
Ja. Ich wundere mich immer wieder über die enorme Naivität. Putin selbst hat einmal gesagt, dass KGB-Leute die Zunge nicht haben, um ihre Gedanken auszudrücken, sondern um ihre Gedanken zu verschleiern und um den Gegner zu täuschen. Offensichtlich wird das bei uns immer wieder vergessen.
Sie kennen Putin schon lange. Wie hat er gestern auf Sie gewirkt?
Ich war sehr überrascht. Ich habe Putin noch nie so erlebt wie gestern. Er war sehr nervös und zappelte mit den Füssen. Er rang um Fassung, teilweise überschlug sich seine Stimme fast. Auch fixierte er niemanden, was er normalerweise tut. Irgendetwas geht vor mit ihm. Entweder ist er krank oder hochgradig nervös.
Gehen wir mal davon aus, dass er nervös ist. Wie würden Sie dies deuten?
Das könnte bedeuten, dass ihn der Westen mit seinen angedrohten Sanktionen tatsächlich ein bisschen in die Enge getrieben hat. Ich weiss auch, dass es im Westen unangenehme Informationen über Putin gibt, die man als Faustpfand zurückhält. Vielleicht hat er Angst, dass der Westen diese Informationen nun bekanntmacht. Sollte Putin wirklich mit dem Rücken zur Wand stehen, dann könnte es gefährlich werden. Er könnte Schritte unternehmen, die nicht sehr rational sind.
Sprechen wir noch über die Vorschläge Putins: Konkret schlägt er vor, die Referenden in der Ost-Ukraine zu verschieben. Hat er den nötigen Einfluss auf die pro-russischen Kämpfer?
Davon bin ich überzeugt. Er ist ihr Oberster Befehlshaber. Ein Kremlsprecher hat gesagt, man verliere den Einfluss. Um etwas zu verlieren, muss man es haben. Tatsächlich ist es so, dass man es vielleicht nicht mehr bis ins kleinste Detail kontrolliert. Aber der grosse Befehlshaber hier ist ganz eindeutig Wladimir Putin.
Wenn wir zusammenfassen, was Sie gesagt haben: Es scheint unklar, welche Strategie Putin verfolgt. Was denken Sie?
Der Zusammenbruch der Sowjetunion ist sein Trauma. Das ist die grosse Katastrophe in seinem Leben. Er will nicht als der Präsident in die Geschichte eingehen, der die Ukraine verliert. Das ist sein wichtigstes Anliegen. Dazu ist er zu fast allem bereit. Er wird schrittweise vorgehen. Zuerst einmal ist ihm wichtig, dass die Präsidentschaftswahlen in der Ukraine von Ende Mai nicht stattfinden. Er will nicht, dass diese neue Regierung in Kiew legitimiert wird. De facto will er den Einfluss über die Ostukraine.
Also geht es um Machterhalt. Aber bleibt Putin aus Sicht des Westens unberechenbar?
Eindeutig. Berechenbar ist genau diese Unberechenbarkeit und das weitere Vordringen in die Ukraine. Noch einmal: Mich erstaunt diese enorme Naivität des Westens.