Seine Zeit an der Spitze war kurz: Gerade einmal ein Jahr war der ägyptische Präsident Mohammed Mursi an der Macht, bevor er aus dem Amt gejagt wurde. Das war vor eineinhalb Jahren, im Juli 2013. Heute sitzt sein Nachfolger Abdel al Sisi fest im Sattel, während die Muslimbrüder wieder dort sind, wo sie in den 70er Jahren waren – im Untergrund.
Die politische Partei der Muslimbrüder ist heute verboten, ihr Vermögen wurde von der Regierung konfisziert. Was bleibt noch übrig von der einst mächtigen Bruderschaft?
Reinhard Schulze: Offiziell nicht viel: 15‘000 Mitglieder sind im Gefängnis, rund 1300 davon sind zum Tode verurteilt. Auch dem früheren Präsidenten Mursi droht die Todesstrafe. Sich öffentlich als Muslimbruder zu identifizieren, ist gefährlich geworden. Dennoch ist die Organisation nicht einfach verschwunden. Noch immer betreibt sie Krankenhäuser und unterstützt Arme.
Wie kann sie das tun, wenn der Staat ihr doch das Geld weggenommen hat?
Die Bruderschaft ist nicht einfach eine einzelne Organisation. Die Basis besteht aus etwa 2000 kleineren Gruppen, die individuell Spenden sammeln und damit unter anderem Moscheen und Krankenhäuser finanzieren. Sie dürften immer noch über ein ansehnliches Vermögen verfügen.
Dieses Netzwerk wird auf einer zweiten Ebene von einer Führung geleitet, welche die strategische Ausrichtung bestimmt und über eine recht aktive Geheimorganisation verfügt. Das Geld, das die Regierung konfisziert hat, stammt hingegen von einer dritten Ebene – dem offiziellen Verein, den die Bruderschaft als NGO 2011 gegründet hatte und der im September 2013 verboten wurde. Er ist aber nur die Spitze des Eisbergs.
Bei der Stichwahl 2012 erhielt Mursi eine Mehrheit der Stimmen. Wie viele Anhänger zählen die Muslimbrüder heute noch?
Vor Mursis Wahl hat man die Anzahl Sympathisanten auf zwei Millionen geschätzt. Aber der Kern der Anhänger belief sich wohl eher auf 500‘000 bis 800‘000 Personen.
Was nicht viel ist in einem Land mit geschätzten 86 Millionen Einwohnern…
Nein. Vor Mursis Sturz hat man den Einfluss der Muslimbrüder wohl überschätzt, weil sie während der Wahlen so viel Unterstützung erhielten. Hätten die Wahlen ein Jahr später stattgefunden, hätte Mursi sehr viel weniger Stimmen erhalten.
Heute sind die Muslimbrüder völlig diskreditiert. Warum?
Die Ägypter wurden von Mursis Herrschaft enttäuscht. Nicht nur von seiner Politik, sondern vor allem vom Verhalten der Bruderschaft. Sie bediente sich aus den staatlichen Geldtöpfen, als ob es ihr Eigentum wäre. Dieses Anspruchsdenken kam auch anderswo zum Ausdruck – etwa, als kurz nach dem Sturz Mursis einer der Führer, Mohamed Beltagy, sagte: „Erst haben sie uns die Regierung gestohlen, jetzt wollen sie uns auch noch das Land stehlen.“ Er sprach also, als ob Ägypten im Besitz der Bruderschaft wäre.
Wie kommt es, dass Millionen von Ägypter Mursi die Stimme gaben, sich aber kaum jemand zu den 1400 toten Muslimbrüdern äussert, die im Sommer 2013 ums Leben kamen?
Die Mehrheit der Bevölkerung ist der Meinung, dass es sich dabei um einen Konflikt zwischen den Muslimbrüdern und dem Staat handelt. Sie finden, sie hätten damit nichts zu tun. Nach Mursis Sturz wurden die Muslimbrüder mehr und mehr als Störfaktor und Fremdkörper gesehen. Deswegen sind heute kaum noch Sympathien für sie da.
Die heutige Regierung macht die Muslimbrüder auch für die Anschläge verantwortlich, die seit Mursis Sturz Ägypten immer wieder erschüttern.
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Die Bruderschaft – welche die ägyptische Regierung Ende 2013 zur Terrororganisation erklärt hat – wird von der Bevölkerung in einen Topf geworfen mit den Dschihadisten. Daran ist auch die Staatspropaganda Schuld. Sie setzt die Bruderschaft mit einheimischen Terrorgruppen wie den Dschihadisten der Sinai-Halbinsel gleich. Diese Behandlung führt wiederum zur Radikalisierung der Bruderschaft.
Gibt es einen Weg, aus diesem Teufelskreis wieder herauszukommen?
Das hängt davon ab, ob der Staat auf die Dialogangebote eingeht, die teilweise von den Muslimbrüdern gemacht werden. Doch selbst in diesem Fall bräuchte es ein radikales Umdenken der Muslimbrüder. Es stellt sich die Frage, ob das tunesische Modell in Ägypten vorstellbar ist, dass sich die Muslimbrüder als islamisch-konservative Parteien ins System einfügen. Im Augenblick sehe ich das aber nicht – im Gegenteil. Mit der Flucht in den Untergrund sind es vielmehr die Hardliner, die den Ton angeben. Der Staat ist unser Feind und Sisi der neue Pharao, der gestürzt werden muss; so lauten heute die Parolen der Muslimbrüder. Das wiederum bestätigt das Regime in seiner harten Haltung.