SRF: Was ist Ihre Erklärung für das überraschenderweise um zwei Wochen vorgezogene Urteil gegen die Nawalny-Brüder?
Boris Maximov: Ich glaube, das sind die üblichen Tricks, die die Protestwelle dämmen sollen. Viele Russen sind jetzt in die Ferien gereist oder sind mitten im Neujahrstrubel. Man hat wohl geglaubt, dass man dadurch die Anzahl Demonstranten halbieren könnte.
Die Staatsanwaltschaft hatte zehn Jahre Lagerhaft gefordert. Jetzt sind es nur dreieinhalb, und dies – zumindest im Fall von Alexej Nawalny – erst noch auf Bewährung. Ist das nicht verhältnismässig mild?
Ja, das ist mild. Der Kreml hatte gesehen, dass sich etwa 30'000 Menschen im Internet zu einer Protestkundgebung angemeldet haben, und ist zurückgerudert. Auf der anderen Seite ist es eine sehr zwiespältige und umstrittene Entscheidung. Alexejs Bruder Oleg muss nun wirklich für dreieinhalb Jahre einsitzen. Er dient dann als Geisel und soll weitere Enthüllungen durch seinen Bruder verhindern.
Sie haben die russische Protestbewegung erwähnt. Fürchtet der Kreml die Opposition denn so sehr?
Jedes Mal, wenn es zu Demonstrationen kommt, wünscht sich Präsident Putin eine brutale Unterdrückung der Protestaktion. Egal, ob er sich davor fürchtet oder nicht. Das ist seine Vorgehensweise. Er jagt den Teilnehmern damit Angst ein. Das einzige, was er in diesem konkreten Fall befürchten muss, ist die schlechte Wirtschaftslage. Diese verschlimmert sich von Tag zu Tag: hohe Inflation, Abwertung des Rubels, leere Regale und so weiter. Deshalb kann die Stimmung leicht umschlagen. Das ist der Grund, weshalb Putin diese Proteste jetzt fürchtet.
Anhänger Nawalnys kritisieren, das Urteil sei eine rein politische Abrechnung. Ist der Vorwurf des Betrugs tatsächlich völlig aus der Luft gegriffen?
Das ist eine ganz simple Sache. Das ganze Verfahren richtet sich vor allem gegen Alexej Nawalny, nicht gegen seinen Bruder, der wie gesagt nur als Geisel dient. Nawalny ist einer, der dokumentarisch belegt hat, dass Spitzenbeamte aus der nächsten Umgebung des Kremls Luxusvillen in Südfrankreich oder in Kalifornien oder andernorts besitzen, die sie sich mit ihren Gehältern gar nicht leisten können. Man hat zahlreiche Strafverfahren gegen Nawalny eingeleitet. Zum Teil auch absurde: So soll er vor ein paar Jahren einen Elch umgebracht oder ein Plakat von einer Bahnhofswand entfernt haben. Der Prozess jetzt gehört in dieselbe Reihe.
Alexej Nawalny war sehr aktiv, nun ist er für dreieinhalb Jahre kaltgestellt, darf sich nicht politisch engagieren. Kann er dennoch etwas bewirken?
Er war schon seit langem unter Hausarrest. Das hat nicht viel genützt, denn er hat seine Ermittlungen im Internet fortgesetzt und weitere Enthüllungen veröffentlicht. Ich glaube nicht, dass die Bewährungsstrafe etwas bringen wird. Das einzige, womit den Kreml ihn unter Druck setzt, ist das Schicksal seines Bruders. Im russischen Knast kann ein Häftling ohne weiteres verstümmelt oder umgebracht werden. Da herrscht Willkür.
Das einzige, womit den Kreml Alexej unter Druck setzt, ist das Schicksal seines Bruders.
Wenn man die russischen Opposition anschaut, hat man den Eindruck, dass niemand Kritik über kann. Ist die Opposition so schwach, wie es den Anschein hat?
So ist es im Augenblick. Die Opposition war lange Zeit zersplittert und handlungsunfähig. Sie hat lange Zeit auf liberale Werte gesetzt. Das war ein Fremdwort in Russland und hat viele abgeschreckt. Sie ganz als pro-westlich und käuflich. Nawalny ist zu einer Figur geworden, die die Sprache des Volkes spricht, die den Schwerpunkt auf Korruption setzt, die zum Teil auch als nationalistisch gilt. Das heisst, er hat wirklich hohe Erfolgschancen gehabt. Das hat sich auch bei den Bürgermeisterwahlen in Moskau gezeigt, für die er 2013 kandidiert hatte.
Für heute sind wieder Demonstrationen für Nawalny angesagt. Was sind das für Leute, die für ihn auf die Strasse gehen?
Es sind Lehrer, Ärzte, Studenten; Leute mit hohem Bildungsgrad. Die Stimmung in Moskau unterscheidet sich deutlich von der Stimmung in der Provinz. Vor allem weil die Leute hier die Informationen auch aus dem Internet schöpfen. Sie sind nicht nur – wie auf dem Land – auf das staatstreue Fernsehen angewiesen.
Russland wird international stark isoliert. Der innere Zusammenhalt ist gut. Dennoch fürchtet Putin die Opposition. Hat sich der Umgang mit ihr verändert in letzter Zeit?
In den letzten zwei Jahren hat sich der Umgang mit der Opposition verhärtet. Gleich nach Putins erneutem Machtantritt hat er unzählige Gesetze verabschiedet, die den Spielraum der Bürger radikal einengen. Und es geht so weiter. Es gab ein längeres Tauziehen mit Putin. Jetzt sind eindeutig die Hardliner dran. Sie haben das sagen.
Das Gespräch führte Simone Fatzer.