SRF News: Vielen sozialistischen Parteifreunden von François Hollande gehen die jüngsten Vorschläge zu weit. Weshalb wenden sich immer mehr von ihm ab?
Charles Liebherr: Viele Parteifreunde fühlen sich in ihren politischen Idealen von Hollande verraten. In Frankreich gibt es mehr als drei Millionen Doppelbürger. Die meisten sind Kinder von Einwanderern aus den alten Kolonien Afrikas. Viele von ihnen haben 2012 Hollande gewählt. Sie fühlen sich stigmatisiert, haben das Gefühl, nur Franzosen zweiter Klasse zu sein. Damit verrate die Linke ihre Grundwerte. Die Linke verliert auch politisch Rückhalt bei diesen Wählern. Das ist sicher der wichtigste Grund neben dem Einwand, dass vor dem französischen Gesetz alle Staatsbürger gleichgestellt sein sollten. Und das war auch der Hauptgrund für den Rücktritt von Justizministerin Christiane Taubira, die diesen Kurs nicht länger mittragen wollte.
Der Entzug der Staatsbürgerschaft ist ein altes Anliegen der Rechten und extremen Rechten. Warum hat Hollande diese Forderung aufgenommen?
Hollande glaubt, damit zeigen zu können, dass er der Präsident aller Franzosen ist, und dass er das Land im Nachgang der Terroranschläge im letzten Jahr wieder zu mehr Geschlossenheit führen kann. Deshalb versucht er, in dieser Frage auf alle Seiten hin politische Eingeständnisse zu machen.
Viele Doppelbürger haben das Gefühl, Franzosen zweiter Klasse zu sein.
Der Entzug der Doppelbürgerschaft ist in seinen Augen ein Mittel, wenn auch nur von symbolischer Bedeutung, um eine solche Einheit zu schaffen. Er glaubte im November, damit einen breiten politischen Konsens schaffen zu können, die Reihen zu schliessen und ein Zeichen setzen zu können. Nun, ein paar Wochen später, muss man sagen, dass wenig davon zu spüren ist.
Nimmt die Rechte den Ball auf und unterstützt den Präsidenten jetzt?
Zunächst schien es tatsächlich so. Hollandes grösster Rivale, Nicolas Sarkozy, der Rückkehrer, hat seine Unterstützung versprochen. Das wiederum hat aber auch die Rivalitäten im rechten Lager wieder aufflammen lassen. Jene, die verhindern wollen, dass Sarkozy als Sieger aus den Primärwahlen, die im Herbst stattfinden, hervorgeht, setzen sich ab. Sie lassen Sarkozy lieber im Regen stehen – und noch viel lieber natürlich Hollande. Das ganze Kalkül von Hollande scheint nicht wirklich aufzugehen. Zurück bleibt – man muss sagen, schon wieder – ein Scherbenhaufen.
Hollandes Kalkül scheint nicht wirklich aufzugehen. Zurück bleibt ein Scherbenhaufen.
Eine Verfassungsänderung erfordert drei Fünftel aller Stimmen in der verfassungsgebenden Versammlung beider Kammern. Hat Hollandes Vorhaben überhaupt noch eine Chance, diese Drei-Fünftel-Mehrheit zu erreichen?
Die Eintretensdebatte wurde sehr grundsätzlich geführt. Die Grünen verlangten vergeblich Nichteintreten und Rückweisung der Vorlage an die Parlamentskommission. Es zeigt sich klar, dass viele Parlamentarier verärgert sind. Es geht um die Frage: Sind alle Franzosen vor dem Gesetz gleich? Dazu mag der Entzug der Staatsbürgerschaft nicht passen, weil er faktisch zwei Kategorien von Franzosen schafft, egal wie das am Schluss genau im Gesetz formuliert sein wird.
Hollandes grösster Rivale, Nicolas Sarkozy, hat seine Unterstützung versprochen.
Ein solcher Artikel hat nach Meinung vieler Politiker keinen Platz im Grundrecht. Denn dieses hält in Artikel 1 fest, dass alle Bürger – ohne Ausnahme – vor dem Gesetz gleich sind. Viel hängt nun von Hollandes eigener Partei ab. Können sich die Sozialisten zumindest fast geschlossen auf eine gemeinsame Position einigen, dann hat Hollande durchaus noch eine Chance. Das würde auch die politische Rechte wieder in Zugzwang bringen.
Es ist paradox: Der Präsident kann sich erst auf zwei Stimmen im Parlament fest verlassen, jene der beiden Vertreter des Front National. Es ist daher fraglicher denn je, wie Hollande diese Drei-Fünftel-Mehrheit erreichen kann, um die Verfassung in seinem Sinn zu ändern. Im Moment sieht es eher so aus, als ob das Ganze in einem Fiasko endet.
Das Gespräch führte Anneliese Tenisch.