Für die einen ist er die hässliche Fratze des Kapitalismus, für die anderen verkörpert er das liberale Gewissen: Der 70-jährige Ire Peter Sutherland war nacheinander irischer Generalstaatsanwalt, EU-Kommissar, Generaldirektor der Welthandelsorganisation (WTO), Verwaltungsratspräsident des Energiekonzerns BP und leitender Partner bei Goldman Sachs.
Zurzeit engagiert sich der leidenschaftliche Europäer und Weltbürger alter Schule als Bevollmächtigter für Flüchtlingsfragen von UNO-Generalsekretär Ban Ki-Moon. In Dublin hat er ein Plädoyer gegen einen Austritt Grossbritanniens aus der EU gehalten.
SRF News: Warum verbeissen sich die Briten aussschliesslich in fragwürdige Zahlen und Wirtschaftsprognosen, wenn es um die EU-Mitgliedschaft geht? Wo bleibt der Idealismus?
Peter Sutherland: Da gibt es durchaus Emotionen, aber die falschen. Sie drehen sich um die Andersartigkeit der Briten, um ihre angebliche Überlegenheit. Nur, es gibt in der heutigen Welt keine Inseln mehr.
Hätten die Briten 1973 bei der EWG-Norderweiterung überhaupt den Europäischen Gemeinschaften (EG) beitreten sollen?
Gewiss, aber die politische Elite hat es immer versäumt, die Vorteile der EG und späteren EU zu unterstreichen.
«Sicher sind nur die Risiken»
Sutherland hatte zuvor vor einem Seminar des Europainstituts die Irrwege der britischen Nachbarn zerpflückt: Er habe keinen Schimmer, wo das enden werde, sagte er. Die Meinungsumfragen seien knapp, die Buchmacher setzten auf Europa, aber jeder Taxifahrer sei dagegen, beklagte er. «Sicher sind nur die Risiken.»
Sutherland berief sich auf seine Erfahrungen als Leiter der Welthandelsorganisation (WTO): Nach einem Volksentscheid für einen Austritt aus der EU werde London neue Konditionen mit Brüssel aushandeln müssen. Erfahrungsgemäss werde dies deutlich länger als fünf Jahre dauern.
An den Binnenmarkt-Regeln kommt niemand vorbei
Verhandlungstechnisch versetze das die Briten in eine äusserst verwundbare Lage. Sutherland ging nacheinander die möglichen Szenarien durch: Zuerst das Modell Norwegen, dann das der Schweiz: «Bekanntlich steht es derzeit um die Beziehungen zwischen der EU und der Schweiz sehr schlecht», analysierte er.
Mit klinischer Präzision führte Sutherland aus, dass die Briten in beiden möglichen Szenarien die Regeln des Binnenmarktes übernehmen müssten, den sogenannten Acquis communitaire. Sie müssten trotzdem Beiträge zahlen und dei Personenfreizügigkeit gewähren. Und das alles für ein Arrangement, das die Finanzdienstleistungen als Filetstück des britischen Exportsektors ausschliesse. Denn die City of London verlöre den Zugang zu einem ihrer wichtigsten Märkte.
«Chaos und politisches Trauma»
Die Regierung müsste dann Bedingungen akzeptieren, über die sich die siegreichen Brexit-Befürworter heute beschweren und die sie den Stimmbürgern zur Ablehnung empfehlen. Das führe ins Chaos und wäre ein politisches Trauma. Klipp und klar wandte sich Sutherland dabei gegen allzu viel Entgegenkommen der EU: Der Austritt habe seinen Preis.
Nach dieser Tour de force durch britische Sackgassen schloss Sutherland mit einer Beobachtung des verstorbenen britischen Journalisten Hugo Young: Das Problem der Briten sei es, eine Vergangenheit, die sie nicht vergessen könnten, mit einer Zukunft, der sie nicht entrinnen könnten, zu vereinbaren.