In über 100 Städten gingen die Menschen in Brasilien auch in der letzten Nacht auf die Strassen. Viele der Demonstrationen waren zu Beginn Freudenkundgebungen, denn eine der anfänglichen Forderungen wurde diese Woche erfüllt: Die Preise der öffentlichen Verkehrsmittel steigen nicht.
Dieses Zugeständnis hat nicht gereicht. «Die Mittelklasse hat ihre eigene Unzufriedenheit mit dem Staat und der Regierung entdeckt», sagt dazu SRF-Südamerikakorrespondent Ulrich Achermann. Jetzt sei der Protest zu einer Volksbewegung angewachsen.
Chaos und Strassenschlachten
In der Nacht zum Freitag demonstrierte mehr als eine Million Menschen. In vielen Städten gerieten die Proteste ausser Kontrolle – es kam zu bürgerkriegsähnlichen Zuständen.
In Rio de Janeiro wurden 44 Menschen verletzt, in Brasília über 100. Viele erlitten Verletzungen durch Gummigeschosse der Polizei oder hatten Atemwegsbeschwerden durch Tränengas-Granaten.
Die grössten Proteste gab es in Rio mit rund 300'000 Menschen. Die allermeisten demonstrierten völlig friedlich und zogen durch das Zentrum der Stadt. Doch die Situation eskalierte, als die Polizei Tränengas-Granaten auf den Protestzug abfeuerte. Anschliessend kam es zu Strassenschlachten.
Die Demonstranten forderten ein besseres Gesundheits- und Bildungssystem und eine Ende der Korruption. Jetzt wo sich die wirtschaftliche Lage verschlechtere, begreife die Mittelschicht, dass sie wohl leer ausgehen werde, sagt Achermann. Zudem habe die regierende Arbeiterpartei in den letzten zehn Jahren immer nur das gemacht, was ihr Stimmen gebracht habe. «Strukturreformen sind ausgeblieben, das rächt sich jetzt.»
Ratlose Regierung
Präsidentin Dilma Rousseff verschob eine für Sonntag geplante Reise nach Japan. Sie ziehe es derzeit vor, nicht eine ganze Woche ausserhalb des Landes zu sein, sagte ihr Sprecher. Für Freitag berief Rousseff eine Dringlichkeitssitzung in Brasília ein.
Die Regierung wirke überrascht, sagt der Südamerikakorrespondent. Brasilien kenne eigentlich keine Protestkultur, wie das etwa in Argentinien der Fall sei. «Im Moment weiss man offenbar weder ein noch aus.»
Doch nun müsse sich Rousseff etwas einfallen lassen, damit sie die Lage wieder in den Griff bekomme. Achermann geht davon aus, dass die Proteste weiter gehen werden um die Regierung unter Druck zu setzen. «Das politische Regime in Brasilien ist eine einzige Katastrophe, die Korruption ist im System eingepflanzt.» Um den Volkszorn etwas zu beruhigen, müsse die Regierung hier ansetzen, so der Südamerikakorrespondent.