Es gibt die grellen Stimmen in Russland. Im Staatsfernsehen wird die Aufrüstung der Nato in Osteuropa schon mal mit den Kriegsvorbereitungen von Nazi-Deutschland verglichen. Der Tenor: Russland ist – wie schon 1941 – erneut in Gefahr.
Es gibt aber auch die gemässigten, analytischen Stimmen wie jene von Fjodor Woitolowski. Er ist Vize-Direktor des Instituts für Weltökonomie und internationale Beziehungen, eines staatlichen Thinktanks. «Für einen Konflikt braucht es immer zwei. Es ist nie so, dass einfach nur eine Seite schuld ist», sagt er über die jüngsten Spannungen zwischen Russland und der Nato.
Man muss immer die Geschichte eines Konflikts anschauen. Nach dem Kalten Krieg war Russland bereit, mit dem Westen zusammenzuarbeiten.
Der Politologe und Historiker schiebt allerdings gleich ein grosses Aber nach: «Man muss immer die Geschichte eines Konflikts anschauen. Nach dem Ende des Kalten Krieges steckte Russland in einer schweren wirtschaftlichen und politischen Krise. Aber es war bereit, intensiv mit dem Westen zusammenzuarbeiten.»
Permanente Osterweiterung
Doch dazu sei es nicht gekommen. Stattdessen habe sich die Nato permanent nach Osten erweitert. Auch im Kosovo-Krieg seien die Interessen Russlands nicht berücksichtigt worden. Die Nato griff damals gegen den Willen Moskaus Serbien an. «Russland will Teil der europäischen Sicherheitsarchitektur sein», sagt Woitolowski. «Aber wir werden nicht integriert. Im Gegenteil, es wird ein Block geschaffen, der uns gegenübersteht. Das beunruhigt uns.»
Die Position, die Woitolowski formuliert, ist in Moskau ziemlich verbreitet. Russland fühlt sich zurückgewiesen, nicht ernst genommen, nicht geachtet. Die Beziehung zum Westen hat etwas von einer gescheiterten Liebesbeziehung. Der verschmähte Partner reagiert mit demonstrativem Selbstbewusstsein. Oder, wie es von aussen manchmal wirkt, mit aggressivem Trotz.
Nun schickt die Nato Truppen an die Ostgrenze, weil sich Balten und Polen vor dem grossen Nachbarn fürchten. Woitolowski hält diese Sorgen für völlig unbegründet. «Russland hat nicht die geringsten Ansprüche an irgendwelche Territorien im Baltikum oder in Polen. Und schon gar nicht wollen wir einen grossen militärischen Konflikt mit dem Westen», sagt er.
Die Krim schloss sich Russland freiwillig an. Wäre das nicht passiert, hätten wir heute einen viel grösseren Konflikt in der Ukraine.»
Die «russische Gefahr», von der in Osteuropa zuweilen die Rede ist, sei rein virtuell. Die Bedrohung werde aufgeblasen, weil die osteuropäischen Länder innerhalb der Nato auf sich aufmerksam machen wollten, sagt Woitolowski.
Unterschiedliche Interpretation
Das Argument, Russland habe schliesslich auch die Krim annektiert, um auf die Ukraine Druck auszuüben, lässt Woitolowski nicht gelten: «Die Krim hat sich Russland freiwillig angeschlossen. Wenn das nicht passiert wäre, hätten wir heute einen noch viel grösseren Konflikt in der Ukraine.»
Diese Deutung der Krim-Krise ist in Russland Staatsraison. Der Westen sieht das anders: Die Ereignisse vor zwei Jahren gelten dort gemeinhin als völkerrechtswidrige Annexion, die Präsident Wladimir Putin mit Hilfe bewaffneter Spezialeinheiten durchdrückte.
Wirtschaftliche Interessen und globale Gefahren werden den Osten und den Westen zusammenbringen.
Das Beispiel Krim zeigt, wie tief das Misstrauen zwischen dem Westen und Russland sitzt – in der Ukraine und darüber hinaus: auf der ganzen Linie vom Schwarzen bis zum Baltischen Meer. Das stellt auch Woitolowski fest. Er spricht von der grössten Krise seit dem Ende des Kalten Krieges. Einen einfachen Weg zur Lösung dieser Probleme sieht der Moskauer Politologe nicht.
Langfristiger Optimismus
«Vertrauen aufzubauen dauert sehr lange. Es zu zerstören geht sehr schnell», sagt Woitolowski. Trotzdem ist er auf lange Sicht optimistisch. Gemeinsame wirtschaftliche Interessen würden Russland und den Westen wieder zusammenrücken lassen, sagt er.
Zudem gebe es immer mehr globale Gefahren; etwa den internationalen Terrorismus. Diese Bedrohungen würden West und Ost zwingen, wieder vermehrt über die gemeinsame Sicherheit nachzudenken. Die Furcht voreinander wäre dann irgendwann kein Thema mehr.