SRF News: Sie wollen an diesem Sonntag in die Türkei fliegen. Die Regierung verhaftet bei Razzien zurzeit Tausende, ob Lehrer, Politiker oder Medienschaffende. Ist es in diesem Klima nicht fahrlässig, dahin zu reisen und ausgerechnet zu einem Prozess?
Im Hinblick auf unsere Reise haben wir die aktuelle Situation natürlich genau angeschaut. Wir mussten uns fragen: Macht es Sinn, dass wir gehen, oder gefährden wir vielleicht sogar diejenigen, denen wir helfen wollen? Wir haben uns mit unseren Partnern vor Ort, aber auch mit unserer Organisation abgesprochen und vorerst entschieden: wir gehen – auch weil wir das Risiko für uns als Ausländerinnen für überschaubar halten. Im Moment sind die Entwicklungen aber so unvorhersehbar, dass wir kurz vor Abflug den definitiven Entscheid treffen werden. Es gibt auch andere Delegationen, die aus Sicherheitsbedenken ihre Reisen abgesagt haben. Natürlich ist das Risiko für Anschläge in der Türkei allgemein erhöht – das hat ja aber nicht direkt etwas mit unseren Prozessen zu tun.
Um was geht es bei diesem konkreten Verfahren, das Sie vor Ort begleiten?
Der Prozess wird gegen ungefähr 45 Anwältinnen und Anwälte geführt. Sie waren damals an der Verteidigung von Kurdenführer Abdulah Öcalan beteiligt. Den Angeklagten wird nun vorgeworfen, dass sie eine terroristische Organisation unterstützt haben. Die Beschuldigten haben jedoch einfach ihren Job als Strafverteidiger gemacht. Natürlich mussten sie dafür mit den mutmasslichen Terroristen sprechen – das reicht jedoch aufgrund der geltenden Antiterrorgesetze in der Türkei für eine Anklage. Es sind klar politische Prozesse, mit denen die türkische Regierung unliebsame Bewegungen und Meinungen ausschalten will. Und inzwischen hat das Verfahren eine neue Ebene erreicht: Im letzten März wurden auch die Verteidiger der Angeklagten zwischenzeitlich verhaftet und angeklagt – die Anwälte der Anwälte also. Das ist alles absurd, aber leider sehr real.
Auch die Verteidiger der Angeklagten wurden angeklagt – die Anwälte der Anwälte also.
Direkt in den Prozess eingreifen könnt ihr als Ausländer ja nicht – Was machen Sie eigentlich genau?
Es geht einerseits darum, so viele Informationen zu sammeln, wie möglich. Wir treffen uns mit der Verteidigung, anderen Anwälten und Delegationen. Wir besprechen den aktuellen Stand des Verfahrens und die neusten Entwicklungen. Dann sitzen wir in die Gerichtsverhandlung und protokollieren einfach genau, was geschieht – mithilfe einer Übersetzung natürlich. Und nach dem Gerichtstermin folgen weitere Treffen und Besprechungen. Dabei geht es dann um das weitere Vorgehen. Und oft gibt es auch Neuigkeiten über neue Verhaftungen von Kollegen und neue Verfahren.
Sie protokollieren also die Prozesse und dokumentiert Unregelmässigkeiten. Welche zum Beispiel?
Wir haben etwa herausgefunden, dass die Verfahren nicht einmal nach türkischen Prozessrecht korrekt geführt werden. Es gab Fehler bei der Beweisaufnahme, etc. Auch wurden zahlreiche Staatsanwälte und Richter, welche zuerst selbst am Verfahren beteiligt waren, später ebenfalls verhaftet und angeklagt. Und die Prozesse wurden vor einem Sondergericht geführt, das den Vorgaben eines fairen Verfahrens, wie es Verfassung und die Europäische Menschenrechtskonvention vorschreiben, nicht genügt. Wir schreiben das alles auf, recherchieren die Rechtsgrundlagen und halten so Verletzungen der Standards fest – etwa jene der Menschenrechtskonvention. Aber ja, wir haben insgesamt eine sehr passive Rolle.
Sie sind stille Beobachter, haben Sie trotzdem selbst schon Repression erlebt?
Nach unserem Besuch im letzten März wollten wir zusammen mit türkischen Kollegen eine Pressekonferenz machen vor dem Gerichtsgebäude, um die aktuellen Entwicklungen zu kommentieren. Da war eben gerade die Verteidigung der Angeklagten selbst verhaftet worden. Die Polizei war sofort zur Stelle – in voller Montur– als ob es darum ginge, eine Demonstration gewaltsam aufzulösen. Unsere türkischen Freunde wurden am Sprechen gehindert, indem sie die Polizei einfach weggedrängt und weggestellt hat. Das war eindrücklich.
Gegen den türkischen Apparat ist man zurzeit wahrscheinlich ziemlich machtlos und Sie sind eine relativ kleine Organisation ohne direkten politischen Einfluss. Was kann denn Ihre Arbeit überhaupt bewirken?
Einerseits versuchen wir mit unseren Berichten für die Geschehnisse vor Ort zu sensibilisieren. Unsere Anwaltskollegen sollen so erfahren, wie ihren Kollegen in der Türkei geschieht – wie gefährdet ihr Berufsstand dort eigentlich ist. Aber auch der Schweizer Bevölkerung wollen wir zeigen, was passiert, wenn ein Rechtsstaat eben nicht funktioniert. Andererseits ist es wichtig, die Prozesse genau zu dokumentieren – für den Fall, dass es doch einmal zu einer internationalen juristischen Aufarbeitung kommt. Dann ist es wichtig, dass man überhaupt Unterlagen hat, um gegen irgendetwas vorzugehen.
Die Situation ist für viele Anwälte in der Türkei extrem: Sie laufen dauernd Gefahr selbst angeklagt zu werden.
Schliesslich geht es aber auch einfach um Solidarität und den direkten Kontakt mit den Betroffenen. Die Situation ist für viele Anwälte und Anwältinnen in der Türkei extrem: sie laufen dauernd Gefahr selbst angeklagt zu werden – nur weil sie ihren Beruf ausüben. Da hilft Ihnen bereits die Gewissheit, dass sich überhaupt noch jemand für ihr Schicksal interessiert. Diese Rückmeldung bekommen wir immer wieder und auch deshalb ist es wichtig, diesen Kontakt nicht abbrechen zu lassen.
Das Gespräch führte Adrian Ackermann.