Mit der anhaltenden Flüchtlingskrise mehren sich die Warnungen vor einem Auseinanderbrechen der Europäischen Union. Dies zeigen jüngste Äusserungen des luxemburgischen Aussenministers Jean Asselborn und des deutschen Vizekanzlers Sigmar Gabriel. Fragen zur aktuellen Lage an den Europa-Experten Dieter Freiburghaus.
SRF News: Zerbricht die EU an der Flüchtlingskrise?
Dieter Freiburghaus: Ich glaube das nicht. Man macht jetzt aus strategischen Gründen auf Alarm, um die Leute endlich aufzuwecken, dass man jetzt handeln muss. Ein Auseinanderbrechen der EU aber kann ich mir schlechthin nicht vorstellen. Einen Staatsstreich kann es nicht geben, denn die Union ist kein Staat, sondern ein Staatenbund. Das Gebilde ist also relativ stabil.
Was, wenn nun einzelne Länder austreten, weil sie sich etwa in der Flüchtlingspolitik mit Quoten überhaupt nicht einig werden?
Es gibt zurzeit mehr Länder, die der EU beitreten wollen. Einzig in Grossbritannien besteht die Möglichkeit eines Austritts, wenn das Volk das Referendum annimmt. Allerdings wollen weder Premier Cameron noch die britische Wirtschaft den Austritt. Sie werden noch Mittel und Wege finden, dies dem Volk mitzuteilen.
Zugleich steht in den Verträgen explizit, dass ein Staat austreten kann. Deswegen hat man klugerweise jetzt eingebaut, dass unwillige Staaten gehen sollen. Das ist für die anderen einfacher, als einen Querulanten zu haben. Zwei bis drei Austritte, die ich aber noch gar nicht sehe, würden das System noch nicht einmal erschüttern.
Sie machen das Problem ziemlich klein. Erkennen Sie denn eine gemeinsame Linie in der Flüchtlingskrise?
Da muss man noch ein Jahr warten. Politische Systeme sind träge, und die Flüchtlingskrise in dem Ausmass ist noch nicht sehr alt. Es braucht Zeit, bis es nicht mehr drunter und drüber geht. Die Syrienkrise als Hauptursache muss zuerst gelöst werden. Das wird wahrscheinlich noch ein paar Monate dauern. Dann müssen die Türkei, Libanon und Jordanien mit ihren Millionen von Flüchtlingen stabilisiert werden. Das wird sehr viel Geld kosten.
Ist die Solidarität zwischen den Staaten noch vorhanden – mit so unterschiedlichen Positionen in der Flüchtlingskrise?
Solidarität zwischen Staaten gibt es nicht. Staaten haben nur Interessen, die sie durchzusetzen versuchen. Dann muss man die Dinge so drehen und wenden, dass zum Schluss die Interessen einigermassen parallel gehen. Aber Solidarität in dem Sinne, wie sie innerhalb eines gestandenen Volkes stattfindet, gibt es in der EU nicht.
Ist die EU denn noch mehr eine Freihandelszone, wenn es keine Solidarität gibt? Gibt es noch einen politischen Zusammenhalt?
Die Frage ist berechtigt. Das was wirklich funktioniert und was ursprünglich auch geplant war, ist eben keine Freihandelszone, sondern ein Binnenmarkt. Das ist etwas völlig anderes. Es ist eine hochgradige Wirtschaftsintegration, die sonst noch nirgends auf der Welt erreicht worden ist. Ich bin ein Fan des Binnenmarktes. Alles was darüber hinausgeht, habe ich mit Skepsis betrachtet – den Euro ebenso wie die gemeinsame Aussen- und Sicherheitspolitik.
Der harte Kern ist also nach wie vor der Binnenmarkt, wo alle dabei sein wollen, halbwegs auch die Schweiz. Das ist der eigentlich stabile Teil, der gut funktioniert und wo das Recht auch angewendet wird. Es ist das beste Europa, das wir je hatten. Was darüber hinausgeht, sind zum grossen Teil auch Sonntagsreden, wenn man etwa sieht, wie schnell Dublin nicht mehr funktioniert hat. Diese intergouvernementale Kooperation funktioniert in der Tat nicht besonders gut.
Sie sind also sehr zuversichtlich, dass die EU auch diese aktuelle Krise meistert?
Sehr zuversichtlich wäre etwas übertrieben. Ich bin nach wie vor zuversichtlich, dass man das meistern wird. Aber die Ungeduld der Medien ist dem nicht angemessen.
Das Interview führte Christoph Kellenberger.