Die Terrormiliz IS sei in Syrien und in Irak wieder am Erstarken, warnt der Antiterrorchef der UNO in einem Bericht an den Sicherheitsrat. Mehr als 10’000 Kämpfer des IS seien in dieser Region aktiv, und die Zahl der Anschläge sei im Vergleich zum Vorjahr 2020 bedeutend gestiegen. Eine Expertin erklärt, wie es so weit kommen konnte.
SRF News: Woran erkennt man, dass der IS wieder erstarkt?
Inga Rogg: Man kann es an der Zunahme der Anschläge festmachen, die man seit Herbst letzten Jahres in Syrien und im Irak beobachtet. Das ist eines der Kriterien. Ein anderes Kriterium ist, dass der IS sich in bestimmten Gegenden ungehindert bewegen und operieren kann.
Der IS ist in Gebieten in Syrien erstarkt, die das Assad-Regime im letzten Jahr unter seine Kontrolle gebracht hat.
Wie lässt sich dieses Wiedererstarken erklären?
Zum einen sind es alte Voraussetzungen, die schon früher zum Erstarken des IS beigetragen haben. Im Nord- und im Nordostirak ist es der Konflikt zwischen Kurden und Arabern und zwischen Schiiten und Sunniten. Aber zusätzlich ist der IS vor allem in Gebieten in Syrien erstarkt, die das Assad-Regime im letzten Jahr unter seine Kontrolle gebracht hat. Es sind Gebiete westlich des Euphrat, und sie reichen zum Teil nach Nordsyrien.
Das syrische Regime dürfte verhindern wollen, dass der IS stärker wird. Was macht es dagegen?
Ja, das ist sicher so. Die Sache ist nur die, dass das Regime in den letzten Jahren vor allem den Krieg gegen die Aufständischen und gegen die Zivilbevölkerung geführt hat und nicht gegen den IS. Das hat das Regime anderen überlassen. Diesen Krieg muss man mit ganz anderen Mitteln führen.
Da braucht es besonders ausgebildete Einheiten. Das syrische Regime ist dazu übergegangen, die Lücken in der Armee mit Freiwilligen auszugleichen. Das sind zum Teil blutjunge Männer, die eine kurze Waffenausbildung bekommen und an die Front geschickt werden. Sie werden dort regelrecht verheizt.
Gibt es einen Zusammenhang zwischen dem Teilabzug der US-Truppen aus Syrien und Irak und dem Erstarken des IS?
Das ist im Moment schwer zu sagen. Im Irak ist dieser Abzug im Gange, die Amerikaner und ihre Verbündeten haben zum Teil Basen geschlossen. Dort, wo die Kooperation zwischen den Kurden und den Amerikanern gut ist, in Ostsyrien und in bestimmten Gebieten im Irak, wurde der IS dadurch geschwächt.
Zusammengefasst: Wie viel Einfluss haben die Dschihadisten in Syrien und Irak?
Man kann den IS von heute nicht mit dem IS von 2014 bis 2018 vergleichen. Aber wir haben eine ähnliche Lage in Irak wie vor zehn Jahren, als die Vorgängerorganisation des IS in ländlichen Gebieten den Untergrundkampf geführt hat. In Syrien ist es die Situation, dass der IS in Gebieten des Regimes erstarken kann.
Ein wichtiger Punkt ist auch die Zukunft der vielen IS-Gefangenen, die es in beiden Ländern gibt
Der Antiterrorchef der UNO fordert von den Mitgliedsstaaten Massnahmen bei der humanitären Hilfe, den Menschenrechten und der Sicherheit in der Region. Reicht das?
Das ist sicher richtig. Syrien und der Irak kämpfen mit mehreren Krisen gleichzeitig, mit einer schweren Wirtschaftskrise, mit politischen Konflikten und mit den Folgen des Coronavirus.
Ein wichtiger Punkt ist auch die Zukunft der vielen IS-Gefangenen, die es in beiden Ländern gibt. In Syrien gibt es zudem dieses grosse, von Kurden kontrollierte, bewachte Camp, in dem die Frauen des IS mit ihren Kindern untergebracht sind. Man weiss, Gefängnisse sind eine Brutstätte für Dschihadisten und Extremisten.
Darüber hinaus sind es lokale, regionale, aber auch internationale Konflikte, die im Kampf gegen den IS hineinspielen. Dieser wird noch sehr lange dauern.
Das Gespräch führte Salvador Attasoy.