Am Donnerstag ist in München ein Afghane mit einem Auto in eine Demo gefahren, eine Frau und ein Kind sind tot. Und am Samstag hat ein Syrer im österreichischen Villach einen 14-Jährigen mit einem Messer getötet. Konservative und rechte Parteien rufen nach Verschärfungen in der Migrationspolitik. Experte Kenan Güngör sagt, was er davon hält.
SRF News: Wie gross schätzen Sie die Gefahr ein, die Migranten und Geflüchtete für die innere Sicherheit darstellen?
Kenan Güngör: Die Zahl der Anschläge hat sich in den letzten zwei Jahren stark erhöht. Interessant ist, dass das Alter der Involvierten gesunken ist, sie sind zum Teil jünger geworden. Im Unterschied zu früher, als die Menschen erst entsprechende Kontakte im Alltag hatten und später eine Onlineradikalisierung stattfand, findet heute die Radikalisierung fast oder zu einem grossen Teil nur noch online statt.
Es gibt Formen von Sterben und Töten, die machen Gesellschaften Angst.
Ist die Gefahr gestiegen?
Ja. Doch die Wahrscheinlichkeit, dass Sie von einem Auto überfahren werden, ist nach wie vor um ein Vielfaches höher. Aber Terroranschläge leben nicht nur von dem Sterben von Menschen, sondern auch von der Angst und dem Schrecken. Es gibt gewisse Formen von Sterben, die sozusagen legitimiert sind, zum Beispiel, wenn wir in die Berge klettern gehen. Es gibt aber andere Formen von Sterben und Töten, die machen Gesellschaften Angst. Terror steht da zuoberst.
Wenn man ein Handbuch schreiben wollte, wie man es falsch machen kann, dann würden Ansätze wie die anlasslose Massenüberprüfung drinstehen.
Österreichs Innenminister hat angekündigt, die Behörden würden künftig anlasslose Massenüberprüfung bei Afghanen und Syrern durchführen. Wie zielführend ist das?
Wenn man ein Handbuch schreiben wollte, wie man es falsch machen kann, dann würde dieser Ansatz drinstehen. Er kriminalisiert eine gesamte Gruppe von Menschen. Wenn wir über Prävention sprechen, wäre es wichtig, gute Partnerschaften aufzubauen. Es gibt zum Beispiel Hinweise von Geflüchteten aus Asylheimen, die bei einem anderen Jugendlichen etwas merken und das der Polizei melden.
Die anlasslose Massenüberprüfung wird keine Wirkung haben, ausser, dass man vorläufig suggeriert, man sei handlungsmächtig.
In Villach hat ein Essenslieferant syrischer Herkunft den Terroristen mit seinem Auto angefahren. Er konnte viel Schlimmeres damit verhindern. Wenn Sie alle stigmatisieren, erreichen Sie das Gegenteil. Die anlasslose Massenüberprüfung wird keine Wirkung haben, ausser, dass man vorläufig suggeriert, man sei handlungsmächtig.
Von rechts hören wir die Forderung nach restriktiver Asylpolitik. Von links heisst es, es brauche mehr Integration. Lässt sich mit Fakten untermauern, was besser funktionieren würde?
Wir wären gut beraten, wenn wir uns nicht von Ideologien leiten lassen, sondern wenn wir überprüfen: ‹Was ist wirksam und verhältnismässig?› Da muss man präzise sein. Und wir müssen uns fragen: ‹Wo sind die Schwächen in unserer Überwachung in solchen Fällen?› Wir bräuchten eine viel bessere Kontrolle der grossen Anbieter der sozialen Medien. Da gibt es immer noch sehr viel Propaganda. Gleichzeitig ist der Trend gegenläufig, weil wir den Einfluss der US-Regierung haben, die die Meinungsfreiheit offen halten will. Doch zumindest in Europa könnten wir sagen, dass wir andere Rahmenbedingungen wollen. Weiter brauchen wir unbedingt eine Messengerüberwachung bei explizit Radikalisierungsgefährdeten. In Fällen, bei denen wir Signale sehen, müssen wir genau hinschauen. Zugleich sollten wir versuchen, niedrigschwellige Kontaktbeziehungen zu den Communitys der Geflüchteten zu haben.
Das Gespräch führte Isabelle Maissen.