Die Präsentation des Jahresberichts durch Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg ist üblicherweise eine unspektakuläre, recht dröge Veranstaltung. Deshalb gibt es jeweils anschliessend für die Medienleute wenigstens einen Umtrunk. Doch diesmal war es etwas anders. Die Nato hat sich seit dem russischen Überfall auf die Ukraine erheblich verändert. Für Stoltenberg war 2022 ein Schlüsseljahr: «Wladimir Putin bezweckte mit seiner Invasion weniger Nato – bekommen hat er nun mehr Nato.»
Die Nato, die nach ihrem Abzug aus Afghanistan nach ihrem Daseinszweck suchte, fand ihr Ziel wieder. Und zwar das alte: Russland die Stirn bieten. Das begann bereits 2014 nach Moskaus Annexion der Krim, doch so richtig in Fahrt kam der Zug im Februar 2022. Stoltenberg spricht «von der grössten Veränderung und Verstärkung seit einer Generation». Mindestens.
Mehr Truppen, mehr Waffen, mehr Logistik
Am augenfälligsten ist das in Osteuropa. Statt bloss wenige tausend stehen jetzt rund 40'000 Soldaten im Osten unter Nato-Kommando. Das sind immer noch weit weniger als Russland mobilisieren könnte, falls es tatsächlich Allianzgebiet angreifen wollte. Es ist aber mehr als die frühere symbolische Präsenz, die eher als Stolperdraht diente, denn als Streitmacht im Verteidigungsfall. Statt vier gibt es nun acht Nato-Kampfgruppen zwischen dem Baltikum und Rumänien.
Es gibt mehr Truppen, mehr Waffen, mehr Logistik und umfangreichere Kommandostrukturen. Man trifft nun Vorkehrungen zur Sicherung kritischer Infrastruktur, darunter Tiefseekabel und Pipelines. Am Donnerstag wird auf der Luftwaffenbasis im niederländischen Eindhoven eine neue Luftbetankungsflotte als einsatzfähig erklärt. Dazu kommt: Demnächst treten zwei neue Mitglieder der Nato bei – Finnland in Kürze, Schweden etwas später, da die Türkei noch bockt.
Nato-Chef fordert mehr
Die Nato-Mitgliedstaaten erhöhten ihre Verteidigungsausgaben allein im Jahr 2022 um 2.2 Prozent. In den vergangenen acht Jahren – also seitdem Russland vom Partner wieder zum Feind wurde – geben sie insgesamt 350 Milliarden Dollar mehr für ihre militärische Sicherheit aus. Immerhin sieben Nato-Mitglieder erreichen inzwischen das selbstgesetzte Ziel, mindestens zwei Prozent ihres Bruttoinlandsprodukts in die Verteidigung zu stecken. Weitere sind nahe dran und alle bewegen sich in diese Richtung.
Wirklich zufrieden ist der Nato-Chef damit noch nicht: «Es muss noch mehr getan werden – und vor allem weitaus schneller.» Etat-Erhöhungen bewirkten wenig, wenn damit nicht eine Stärkung der Armeen einhergehe, Rüstungsaufträge ausgelöst, Munition beschafft und Truppen kampfkräftiger gemacht würden.
Stoltenberg will im Sommer auf dem Nato-Gipfel sogar ein noch deutlich höheres Ziel bei den Rüstungsausgaben vorschlagen: «Der Krieg gegen die Ukraine zeugt von einer nachhaltigen Veränderung für Europas Sicherheit.»
Führungsrolle der Nato nicht gewährleistet
Dass sich die beiden Autokraten Wladimir Putin und sein chinesischer Amtskollege Xi Jinping ausgerechnet am Tag treffen, da Stoltenberg seine Jahresbilanz vorstellt, ist dem Zufall der Agenda geschuldet. Für Putin ist die Visite des Staatschefs aus Peking gerade jetzt äusserst wertvoll. Sie zeigt, dass Russland mächtige Freunde hat. Xi will seinem Partner den Rücken stärken, der ebenfalls die geltende, westliche geprägte Weltordnung aus den Angeln heben möchte.
Die Nato wiederum ist zwar weiter die mächtigste Militärallianz weltweit. Doch ihre Führungsrolle und die Sicherheit ihrer Mitglieder sind offenkundig nicht länger einfach so gewährleistet.