Für den 15. August haben die Taliban in Afghanistan einen Feiertag ausgerufen. Vor einem Jahr haben die Taliban Afghanistan wieder unter ihre Kontrolle gebracht. Seither unterdrücken sie jegliche abweichende Meinung. Die Rechte der Frauen und Mädchen wurden massiv eingeschränkt. Die Not im Land ist gross. Fast die Hälfte der Menschen ist akut von Hunger bedroht. Was die Menschen in Afghanistan von den Taliban halten und wie die aktuelle Lage ist, erklärt Afghanistanexperte Thomas Ruttig.
SRF News: Welchen Stand haben die Taliban innerhalb der afghanischen Bevölkerung?
Thomas Ruttig: Es gibt das ganze Spektrum von Meinungen in einem Land mit fast 40 Millionen Einwohnern. Von Leuten, die die Taliban und deren Werte unterstützen, über jene, die sich gezwungen sehen, sich mit ihnen zu arrangieren, und bis hin zu jenen, die sie vehement ablehnen.
Die Taliban verbitten sich jegliche Einmischung von aussen, auch wenn sie dadurch keinen Zugriff auf dringend benötigte Hilfsgelder haben. Welche Art von Regierung haben sie installiert? Kann man von Regierung in unserem Sinn sprechen?
In unserem Sinn sicher nicht. Die Taliban verfolgen andere Werte. Ihr Hauptziel ist es, eine islamische Ordnung in Afghanistan einzuführen. Das sehen sie als einziges Instrument dafür, Gerechtigkeit in ihrem Sinne im Land herzustellen. Neben sich dulden sie niemand anders. Auch wenn wir und auch die Menschen in Afghanistan wissen, dass es ein breites Spektrum politischer Meinungen gibt.
Das Hauptziel der Taliban ist es, eine islamische Ordnung in Afghanistan einzuführen.
Innerhalb der Taliban gibt es verschiedene Strömungen. Wer genau hat das Sagen?
Es gibt vor allen Dingen zwei Machtzentren. Zum einen gibt es die Regierung, das Kabinett in Kabul. Das ähnelt den Strukturen des ersten Taliban-Regimes vor 2001. Und dann gibt es den Talibanchef Hibatullah Akhundzada. Die Strömung unter seiner Führung sitzt in Kandahar. Sie sind relativ weit weg von den Geschehnissen in der Hauptstadt, wo es auch Interaktion gibt mit der UNO, mit den humanitären Hilfswerken.
Sie sehen sich legitimiert durch ihren Sieg über die von den USA geführte westliche Militär- und Politikintervention.
Sie haben relativ wenig Welterfahrung und versuchen, ihre Vorstellungen einer islamischen Ordnung durchzudrücken. Und sie wollen sich nicht vom Westen, vom Ausland, aber auch nicht von grossen Sektoren in ihrer eigenen Bevölkerung hereinreden lassen. Denn sie sehen sich legitimiert durch ihren Sieg über die von den USA geführte westliche Militär- und Politikintervention.
Ein Versprechen der Taliban war auch, für Frieden und Sicherheit zu sorgen. Es ist aber keine Ruhe eingekehrt. Es kommt weiterhin zu Anschlägen von noch radikaleren Islamisten. Wie steht es um die Sicherheit im Land?
Grosse Teile der Bevölkerung rechnen den Taliban an, ob zu Recht oder nicht, dass sie Frieden in Afghanistan hergestellt haben. Denn sie haben den landesweiten 40-jährigen Krieg beendet. Es gibt weiterhin Terroranschläge vom örtlichen IS-Ableger. Es gibt auch bewaffneten Widerstand von kleineren Gruppen, die mit dem früheren Regime verbunden sind. Aber die gefährden im Moment nicht die Herrschaft der Taliban.
Mehr und mehr Afghanen und auch Afghaninnen aus den ländlichen Gebieten sagen, sie sind letztendlich froh, dass die Taliban den Krieg beendet haben.
Insofern können gerade in den Landgebieten Afghanistans viele Menschen zum ersten Mal wieder aufatmen. Mehr und mehr Afghanen und auch Afghaninnen aus den ländlichen Gebieten sagen, sie sind letztendlich froh, dass die Taliban den Krieg beendet haben.
Das Gespräch führte Brigitte Kramer.