Ein Lautsprecher steht unter einem Balkon. Zuerst erklingt nur Musik, die nach «Breaking News» klingt. Plötzlich ruft Nachrichtensprecher Dario Chacon laut und deutlich durch das Mikrofon: «Das sind unsere Nachrichten und das ist unsere Art, die Zensur zu umgehen.»
Seine zehnminütige Nachrichtensendung beginnt. Dario Chacon steht auf einem Balkon in einem Armenviertel mitten in der venezolanischen Hauptstadt Caracas. Mit dem Mikrofon präsentiert er die neueste Ausgabe von «Balkon-TV».
Die Themen an diesem Vormittag: Wer ist an der Reihe für die dritte Corona-Impfung, dann informiert er über die neue Steuer, die die Bevölkerung auf Bank-Transaktionen zahlen muss. Es folgen Lokalmeldungen über Baustellen im Viertel, internationale Nachrichten, Sport und Rezepte für billige Mahlzeiten. Chacon hält sich an sachliche und unabhängige Informationen.
Der Mehrheit fehlt Zugang zum Internet
Draussen vor dem Balkon bleiben einige Passanten stehen. In der engen Gasse gegenüber strecken Neugierige ihre Köpfe aus den Fenstern. Rosa Elena ist es gewohnt, dass alle Nachrichten in Venezuela politisch motiviert sind. Darum schaut sie «Balkon-TV». Sie sagt: «Das Fernsehen zeigt nur die eine Seite. Zudem haben wir ständig kein Internet oder immer wieder Stromausfall – so kann man sich nicht informieren.»
Die Mehrheit der Venezolanerinnen und Venezolaner kann sich keinen Zugang zum Internet leisten. Zudem lähmen Stromausfälle regelmässig das ganze Land während mehrerer Stunden am Tag. Etwa 90 Journalistinnen und Journalisten versuchen, diese Lücke zu schliessen. Jeden Tag stellen sie sich in vielen Städten in ganz Venezuela auf die Balkone und lesen Nachrichten vor.
Regierung kontrolliert 90 Prozent der Medien
Kathrin Rosas, eine der Gründerinnen von «Balkon TV», sagt, dass sie die Nachrichten selbst schreiben. «Wir beziehen unsere Informationen hauptsächlich aus investigativen Portalen, die unabhängigen Journalismus betreiben. Die Regierung blockiert diese Internetseiten zwar immer wieder, aber dann suchen wir neue Portale. Zudem recherchieren wir in den Quartieren nach spannenden Geschichten oder leisten Aufklärungsarbeit, wenn die Leute neue Gesetze nicht ganz verstehen. Es geht uns nicht darum, die Leute politisch zu beeinflussen. Wir sind neutral.» Das ist in Venezuela eine Seltenheit.
Wir beziehen unsere Informationen hauptsächlich aus investigativen Portalen, die unabhängigen Journalismus betreiben.
In den letzten 10 Jahren sind über 100 Zeitungen verschwunden, weil sie sich weigerten, ihre redaktionelle Linie an die der autoritären Machthaber anzupassen. Laut einer EU-Beobachtermission kontrolliert die Regierung 90 Prozent aller Medien im Land.
Zensurierte Themen können Drohungen provozieren
Die Akzeptanz von «Balkon TV» in der Bevölkerung ist so gross, dass die Regierung dieses Projekt im Allgemeinen gewähren lässt. Problematisch ist, wenn «Balkon TV» über zensurierte Themen spricht. Bei ernsthaften Drohungen informiert sich das Journalismus-Kollektiv gegenseitig, verschwindet von den Balkonen, aber steht schon bald wieder auf einem nächsten.
Die Venezolanerinnen und Venezolaner haben ein Recht auf unabhängigen Journalismus.