In der Excel-Tabelle steht es schwarz auf weiss: 60'000 Quadratmeter Tarnnetze sind seit der Invasion Russlands in die Ukraine vor drei Jahren zusammengekommen. Die meist älteren Frauen aus Estland und der Ukraine verwandeln in einem alten Nachtclub in Tallinn Stoffreste und alte Fischernetze in Kriegsmaterial. Nun gehen die Fischernetze aus. Aber die Frauen machen weiter.
«In Krisenzeiten muss man aktiv sein, das hilft auch uns gegen den Stress des Kriegs», sagt eine der Initiantinnen dieser Hilfsaktion, Jaana Ratas. Das trifft die Stimmung im Baltikum und Teilen Osteuropas ziemlich gut.
«Falls Russland Estland angreift, wird das keine Kaffeefahrt», warnt Kaimo Kuusk, Staatssekretär im Verteidigungsministerium. «Wir werden mit dem ersten russischen Fussabdruck auf estnischem Boden zurückschiessen.»
Kaimo Kuusk hat vor seiner jetzigen Position im Auslandgeheimdienst gearbeitet und war bis 2023 vier Jahre Botschafter in Kiew, wo er die estnische Militärhilfe für die Ukraine organisiert hat. 0.25 Prozent des Bruttoinlandprodukts (BIP) wendet Estland für diese Unterstützung auf, umgerechnet auf die Schweiz wären das satte zwei Milliarden Franken.
Als ehemaliger Geheimdienstler verrät Kuusk die Details der estnischen Verteidigungsstrategie natürlich nicht. Dafür wird Kalev Stoicescu, der Vorsitzende des Verteidigungsausschusses im Parlament, konkreter. Estland werde im Fall eines russischen Angriffs mit Raketen Gegenschläge führen – gegen St. Petersburg oder Moskau. St. Petersburg liegt nur 130 Kilometer Luftlinie von der estnischen Grenze entfernt und ist eine Region mit starker Militärpräsenz.
«Wir werden zurückschlagen, mit oder ohne Erlaubnis jenseits des grossen Teichs – aus Washington», sagt Stoicescu trocken. Estland kann zwar Russland militärisch kaum lange widerstehen. Aber das Land ist seit 2004 Mitglied der Nato und der EU. In Estland sind auch einige Tausend Nato-Soldaten stationiert, aus Grossbritannien, Frankreich und den USA. Alles Nuklearmächte.
Putin nehme die nukleare Abschreckung ernst, ist Stoicescu überzeugt. Und die Ukraine sei diesbezüglich in einer Grauzone gewesen. Verteidigungsexperte Kuusk ergänzt: Estland werde die Nato und insbesondere die USA nicht an der sprunghaften Rhetorik ihres Präsidenten messen, sondern auf ihre Verpflichtungen behaften nach Artikel 5 des Nato-Pakts. Und Estland selbst erfülle alle seine Verpflichtungen nach Artikel 3.
«Wir sprechen oft über Artikel 5, aber wir vergessen oft Artikel 3, der verlangt, dass jedes Nato-Mitglied in die eigene Sicherheit investiert», sagt Kuusk. Estland werde dieses Jahr fünf Prozent des BIP für die Verteidigung aufwenden. Und schliesslich: Estland habe die USA und die Nato im Irak und Afghanistan unterstützt.
Vielleicht werde Präsident Trump dereinst für jeden einzelnen der 600 US-Soldaten in Estland einen Preis verlangen. «Aber Estland und Europa können mehr bieten als bloss Schutzgeld an die USA», sagt Stoicescu mit einer feinen Anspielung auf Mafiamethoden. Estland ist etwa führend bei der Produktion von Kriegsrobotern.
«Estland ist in der besten Lage seit 500 Jahren: unabhängig und gleichzeitig in der Nato und EU», sagt Kuusk. Ob die Strategie aufgeht, weiss niemand. Aber sie ist die Bestmögliche. Moskau spricht zwar nicht Estnisch, kann aber das Preisschild lesen.