Zum Inhalt springen

Estlands Befürchtungen «Der Kreml will wieder ein russisches Imperium herstellen»

Der Krieg, den Russland gegen die Ukraine führt, hat die baltischen Staaten und ganz Europa aufgeschreckt. Die Ängste vor weiteren Expansionsgelüsten Russlands sind gross, auch in Estland. Der estnische Verteidigungsminister Hanno Pevkur spricht über die Bedrohung durch den grossen Nachbarn.

Hanno Pevkur

Verteidigungsminister von Estland

Personen-Box aufklappen Personen-Box zuklappen

Pevkur ist studierter Jurist und Vertedigungsminister von Estland. Er ist Mitglied der estnischen Reformpartei. Sie ist eine klassische liberale Partei.

SRF News: Befürchten Sie und das estnische Volk, dass Russland Estland früher oder später angreift?

Hanno Pevkur: Wir müssen auf die Ukrainer vertrauen und sie stärker unterstützen. Denn es geht um nichts weniger als um unsere Freiheit hier in Europa. Das sollten alle verstehen und die Ukraine weiterhin unterstützen. 

Der Kreml will beweisen, dass die Nato nicht funktioniert. Nun ist es an uns zu zeigen, dass er sich irrt.

Die Wahrscheinlichkeit ist gering, dass das russische Regime bald friedlicher wird. Ist Ihr Land, ist die Nato, vorbereitet für einen möglichen Angriff?

Schaut man auf die Wirtschaftskraft, dann entspricht jene Russlands etwa jener der Benelux-Länder Belgien, Luxemburg und Niederlande. Die Nato als Ganzes hat offenkundig mehr Feuerkraft und bessere Streitkräfte als Russland. Die Frage ist: Nutzen wir unser Potenzial? Und wir müssen uns ebenfalls fragen: Wollen wir wirklich, dass die Ukraine diesen Krieg gewinnt?

Bald ist Donald Trump wieder US-Präsident. Er ist kein Freund Europas. Ist Europa fähig und willens, mehr Verantwortung für seine Sicherheit zu übernehmen?                 

Blenden wir vierzig Jahre zurück, in den Kalten Krieg. Damals gaben die europäischen Länder etwa vier Prozent des Bruttoinlandprodukts für Verteidigung aus. Später verringerten wir diese Ausgaben massiv, weil wir hofften, Russland werde ein normales Land werden. Leider erfüllte sich dieser Wunsch nicht. Der Kreml will wieder ein russisches Imperium herstellen. Und er will beweisen, dass die Nato nicht funktioniert. Nun ist es an uns zu zeigen, dass er sich irrt.

Zwei Pfosten im Wald
Legende: Die Grenze zwischen Estland und Russland: Markierungspfosten. Reuters/Ints Kalnins

Bereits die Eroberung eines kleinen Teils von Nato-Territorium wäre für Wladimir Putin ein Triumph, zum Beispiel einen Teil von Estland. Es liegen weder ein Meer noch ein Gebirge zwischen Estland und Russland. Ist Ihr Land schwierig zu verteidigen?

Es gibt immerhin einen grossen See und einen Fluss. In heutigen Kriegen sind das kaum noch Hindernisse. Wenn man einen sechs Meter hohen Zaun baut, braucht es halt eine sechseinhalb Meter lange Leiter, um darüber zu steigen. Das russische Regime versteht leider nur die Sprache der Macht. Also muss unsere Abschreckung überzeugend sein. Und deshalb müssen wir noch deutlich mehr in unsere Verteidigung investieren, mehr als drei Prozent. Das raten wir unseren Alliierten.

Sie testen uns, um herauszufinden, wie weit sie gehen können, bevor wir reagieren.

Russland hat einen hybriden Krieg gegen europäische Länder begonnen. Estland war eines der ersten Opfer.

Wir kennen dies seit 2007, als Russland einen Cyberangriff auf uns verübte. Inzwischen finden solche fast täglich statt. Wir sehen Angriffe auf Personen in Westeuropa, auf Leonid Wolkow , einen Partner des verstorbenen russischen Oppositionellen Nawalny. Wir sehen russische Sabotageakte auf Fabriken in Europa. Sie testen uns, um herauszufinden, wie weit sie gehen können, bevor wir reagieren.

Ja, wir haben insgesamt zu spät und zu lau reagiert.

Als Putin die Ukraine angriff, glaubte er, der Westen werde nicht ernsthaft reagieren. Er täuschte sich. Bekommt er nun aber mittelfristig recht, weil die westliche Ukraine-Hilfe erlahmt?

Russland testete den Westen 2008 in Georgien. Dann 2014 mit der Annexion der Krim. Weil der Westen kaum reagierte, ermutigte ihn das für den Grossangriff 2022 auf die Ukraine. Ja, wir haben insgesamt zu spät und zu lau reagiert. Diesen Fehler dürfen wir nicht wiederholen.

Das Interview führte Fredy Gsteiger.

Rendez-vous, 14.11.2024, 12:30 Uhr ; 

Meistgelesene Artikel