SRF News: Verstehen Sie die Ängste in der EU, dass das Beispiel Katalonien Schule machen könnte?
Josef Janning: Für die EU sind separatistische oder emanzipatorische Bewegungen immer ein Problem. Die EU ist eine Art Serviceagentur ihrer Mitgliedstaaten und kann bei einem solchen Problem, das ein einzelnes Mitglied hat, keine Stellung beziehen. Sie kann auch nicht vermittelnd eingreifen. Deshalb kann Brüssel nur zuschauen und hoffen, dass es zu einer friedlichen und geregelten Lösung kommt. Denn Nachahmungseffekte könnten die EU massiv schwächen.
Die Gesellschaft tendiert heute dazu, Bauchentscheide zu fällen. Das ist ein grosses Drama für die EU.
Sie haben schon vor drei Jahren festgestellt, dass die separatistischen Strömungen in Europa zunehmen. Gilt das immer noch?
Ja, wenn auch in einer etwas anderen Landschaft als damals: Die jüngste Welle einschlägiger Bewegungen fasse ich unter dem Begriff «Souveränismus» zusammen. Dabei geht es um die Vorstellung, ein Teil des Problems liege darin, dass Zuständigkeiten von Nationalstaaten auf europäische Ebene übertragen worden sind. Für viele populistische Bewegungen in Europa – sie befördern häufig auch den Separatismus – ist die Ursache allen Übels die Bündelung der Souveränität auf europäischer Ebene. In ihren Augen ist die höhere Ebene immer weniger demokratisch, deswegen wollen sie die Kompetenzen wieder von Brüssel zurückholen und so ein Mehr an Demokratie erreichen. Separatisten übertragen diese Idee auf ihre lokale Situation, denn in vielen Staaten gibt es tief verwurzelte historische Unterlegenheitsgefühle und Verwundunge. Diese alten Konflikte drohen aufzubrechen.
Was bedeutet das für die Europäische Union?
Die EU steht in solchen Fällen vor einem Problem, das sie nicht lösen kann. Es muss auf der Ebene der Nationalstaaten gelöst werden. Dort muss eine öffentliche Debatte darüber stattfinden, wie das Verhältnis zwischen Region, Nation und Europa sein soll. Dabei geht es um komplementäre, sich gegenseitig unterstützende Systeme mit mehreren Ebenen, die definiert werden müssen. Den Menschen muss klar werden, dass es nicht darum geht, dass eine Ebene der anderen die Legitimation entziehen oder die Handlungsfähigkeit nehmen will. In der Vergangenheit sind diese Diskussionen vielfach nicht geführt worden, man hat sie mit Verweis auf die Verfassungslage oder die Notwendigkeit der EU weggedrückt. Heute bräuchten viele Staaten eine umfassende und grundsätzliche europäische Debatte. Den Bürgern muss auf Dauer klar sein, wie das Verhältnis der verschiedenen politischen Ebenen ist und dass sie komplementär angelegt sind.
Viele Staaten bräuchten heute eine umfassende und grundsätzliche EU-Debatte.
Werden wir in 30 Jahren in einem näher zusammengewachsenen Europa leben oder in einem, das stärker als heute in kleine Nationalstaaten zerstückelt ist?
Es ist heute nicht ausgemacht, welches der beiden Szenarien eintreffen wird. Ich persönlich glaube, dass es sehr gute Gründe für den europäischen Zusammenschluss und die EU gibt, bin aber nicht sicher, ob es den gesellschaftspolitischen Akteuren gelingt, dies den Bürgern plausibel zu machen. Die Menschen müssten überzeugt werden, sich das Ganze anzuschauen und ihre eigenen Schlüsse zu ziehen. Doch unsere heutige Gesellschaft neigt dazu, aufgrund des auf ihr lastenden Anpassungsdrucks aus dem Bauch heraus zu entscheiden. Und Bauchentscheide fallen in der Regel nicht zu Gunsten der EU aus. Das ist ein grosses Drama für die Europäische Union.
Das Gespräch führte Christoph Kellenberger.