Mit über 340'000 Ansteckungen und 9000 Toten ist Chile eines der schwer betroffenen Länder in Südamerika. Die Coronakrise hat zudem 1.5 Millionen Arbeitsplätze vernichtet.
Die Lage sei schlimm, sagt Kleinunternehmer Gonzalo Martínez: «Ich erlebe täglich, wie bei mir Fremde klingeln und um Lebensmittel betteln für die vielen Suppenküchen, die in der Krise entstanden sind.» Die Ärmsten erhalten von der Regierung Pakete mit Konserven und geringe Zuschüsse. Leer ausgegangen ist bislang der Mittelstand.
Dabei ist dieser hochgradig absturzgefährdet. Geld wirklich breit zu verteilen, so wie das in Argentinien und Brasilien üblich ist, lehnt die neoliberale Regierung ab. Stattdessen bietet sie Kredite an. Doch weil in Chile die höhere Bildung kostenpflichtig ist, ist der Mittelstand bereits hoch verschuldet.
Cash für das Nötigste
Vergangene Woche zog das Parlament die Notbremse. Die Chileninnen und Chilenen dürfen jetzt ihre Altersguthaben anzapfen. Maximal zehn Prozent ihrer Gutschriften können sie sich auszahlen lassen, ein einziges Mal. Bereits bilden sich lange Schlangen vor den Büros der Rentenversicherer.
Im Fernsehen erklärt eine Studentin, was sie mit dem Geld vorhat: «Ich bin mit meinem Studienkredit für die Universität im Rückstand und muss auch meinen Eltern bei den Ausgaben fürs tägliche Leben helfen.»
Finanziell ausgepowerte Architekten, Anwältinnen oder Boutique-Betreiber: Sie alle sitzen nach vier Quarantäne-Monaten und Wirtschaftsstillstand auf dem Trockenen. Den meisten ist es egal, dass sie jetzt ihre Altersansprüche ins Spiel bringen müssen. Hauptsache, man kommt schnell zu Flüssigem. Viele Betroffene sind der Ansicht, der Staat sei kein verlässlicher Partner.
Deshalb wurde die Forderung, einen Teil der Altersguthaben freizugeben, immer lauter. Es lärmte von Balkonen herunter und aus Vorgärten, als die Mittelständler mit Pfannendeckel-Konzerten Druck aufsetzten. Das Parlament stimmte schliesslich zu – gegen den Willen der Regierung.
Kritik an Pflästerlipolitik
In der Mittelschicht sind jetzt viele erleichtert. Aber es gibt auch einige, welche die Lösung mit den Altersguthaben kritisch hinterfragen. Gonzalo Martínez etwa, der für Firmen und Private Internetlösungen entwickelt. Sein Geschäft läuft gut, das Auftragsvolumen ist nur unwesentlich kleiner als vor der Corona-Pandemie. Er braucht keine Mittel aus dem Pensionsfonds.
«Es ist doch keine Lösung, wenn man aus lauter Not zuletzt die eigene Altersrente schmälern muss», sagt der Kleinunternehmer. «Für mich ist das so, wie wenn man mit einem Heftpflästerchen versuchen würde, eine tiefe, blutende Wunde zu versorgen.» In Coronazeiten Alterskapital zu verbrauchen, kann deshalb bedeuten: Brot für heute und Hunger für morgen.