Seit Ausbruch der Kampfhandlungen zwischen Israel und der Hamas verhält sich die US-Regierung äusserst zurückhaltend, vor allem gegenüber Israel. Auch angesichts der hohen Opferzahl und der grossen Zerstörung in Gaza hat es Joe Biden bisher vermieden, Israel zur Zurückhaltung aufzufordern.
Er wolle sich derzeit mit dem aktuellen Nahostkonflikt ganz einfach nicht beschäftigen. So erklärt Aaron David Miller von der Denkfabrik Carnegie Endowment for International Peace die Zurückhaltung des Präsidenten.
Angesichts der verheerenden Pandemie und der damit verbundenen Wirtschaftskrise in den USA wolle sich Biden ganz auf die Innenpolitik konzentrieren. Denn für den Erfolg seiner Präsidentschaft – so Bidens Kalkül – sei es viel wichtiger, zuerst die zahlreichen Probleme im eigenen Land zu lösen, bevor er sich aussenpolitischen Herausforderungen zuwende.
Innenpolitische Projekte wichtiger
Bis im Sommer wolle er beispielsweise sein ehrgeiziges Infrastrukturprojekt durch den Kongress bringen. Und das sei angesichts der knappen Mehrheitsverhältnisse eine grosse Herausforderung, gibt Miller zu bedenken.
Um diese Projekte nicht zu gefährden, vermeide Biden jeden unnötigen Konflikt mit den Republikanern, aber auch mit dem moderaten und Israel-freundlichen Flügel der Demokraten. Dies erkläre seine auffallende Zurückhaltung gegenüber Israels Regierungschef Benjamin Netanjahu. Zwar verärgere Biden derzeit progressive Demokraten wie Bernie Sanders. Aber das nehme er in Kauf, um einen Konflikt mit den Republikanern zu vermeiden.
Zudem sei eine harte Haltung gegenüber Israel auch in der Bevölkerung wenig populär. Denn aus Sicht vieler gehe es diesmal nicht primär um einen «David gegen Goliath»-Konflikt, bei dem wehrlose Palästinenser dem übermächtigen Israel ausgeliefert seien. Dies vor allem wegen der Bilder vom Bombenhagel der Hamas auf israelische Städte. Die Hamas werde in den USA als eine von Iran unterstützte Terror-Organisation klar abgelehnt, so Miller.
Biden versuche deshalb lediglich hinter den Kulissen dafür zu sorgen, dass die Gewalt im Nahen Osten möglichst rasch eingedämmt werde. Innenpolitisch habe Bidens Zurückhaltung bisher funktioniert, sagt der ehemalige US-Vermittler. Aber der Präsident werde unweigerlich unter Druck geraten, wenn die Zahl der zivilen Opfer auf palästinensischer Seite weiterhin stark steige.
Ultimatum ohne Druckmittel ist sinnlos
Miller, der fast 25 Jahre als Nahost-Experte im US-Aussenministerium gearbeitet hat, gibt aber zu bedenken: Druck auf Israel auszuüben, mache nur dann Sinn, wenn man auch Druckmittel in der Hand habe und bereit sei, den Worten auch Taten folgen zu lassen. Die Geschichte zeige, dass Ultimaten stets gescheitert seien, wenn die USA nichts anzubieten hätten, von dem sich beide Konfliktparteien einen Gewinn versprechen könnten, sagt er.
Dass Biden als Vermittler derzeit nicht über Druckmittel verfüge, sei in der gegenwärtigen Situation aber gar nicht der entscheidende Punkt. Das Hauptproblem sei, dass er aus innenpolitischen Gründen gar kein Interesse habe an diesem Konflikt. Der US-Präsident setze deshalb bloss auf stille Diplomatie und aufs Prinzip Hoffnung, glaubt Nahost-Experte Miller.
Und er setze darauf, dass die Gewalt bereits in den nächsten zwei Tagen abflaut und er sich wieder voll auf die Innenpolitik konzentrieren könne.