«Ich hatte solche Angst», sagt die heute 14-jährige Sanjana stockend. «Ich habe geweint. Meine Mutter war nicht zu Hause, meine Geschwister auch nicht. Mein Vater hat mich in ein anderes Dorf gebracht, ins Haus meiner Grossmutter, nur für diesen Abend», erzählt sie in der Landessprache Marathi.
Sanjana, die auch zwei Jahre später noch kindlich und schüchtern wirkt, lebt in einem winzigen Einraumhaus ihrer Mutter. Auf der Strasse vor dem Haus zockelt ein Ochsenkarren vorbei. Diese Gegend im westindischen Bundesstaat Maharashtra ist ländlich und arm. Viele Menschen verdingen sich für ein paar Rupien am Tag als Tagelöhner auf den Zuckerrohrfeldern.
Als Sanjana im Oktober 2020 mit 12 Jahren verheiratet wurde, war sie noch ein Schulmädchen. Sie hatte Träume. «Ich wollte Krankenschwester werden», sagt sie.
Stattdessen wurde sie kurzerhand mit ihrem 25-jährigen Cousin verheiratet. Die Familie ihres getrenntlebenden Vaters hatte es so beschlossen. Gefragt worden sei sie nicht, erzählt Sanjana. Auch ihre Mutter war ahnungslos.
«Sie sagten mir, dass die Familie meines Bräutigams Geld hat. Und ich ihn heiraten muss, weil meine Mutter arm ist und mich nicht versorgen kann.» Die Familie des Vaters habe ihr einen Hochzeits-Sari angezogen, sie geschmückt und dann sei sie verheiratet worden.
So wie Sanjana geht es vielen Mädchen in Indien. Schon vor der Pandemie waren auf dem Subkontinent mehr unter 18-Jährige verheiratet, als in jedem anderen Land der Welt. Jede dritte Kinderbraut weltweit lebte in Indien. In der Pandemie nahm die Zahl deutlich zu.
Die indische Sozialwissenschaftlerin Shireen Jejeebhoy erforscht das Thema seit vielen Jahren. Ein Grund für den Anstieg sei die Armut, sagt sie.
«Während der Pandemie stieg die Armut an.» Familien gerieten finanziell unter Druck. Die Mädchen seien die ganze Zeit zu Hause gewesen, weil die Schulen geschlossen waren.
«Es gab mehr häusliche Gewalt und keinen Schutz für diese Mädchen.» Um sie «loszuwerden», hätten viele Eltern ihre Töchter schnell verheiratet, erklärt Jejeebhoy.
Für Eltern sei es finanziell reizvoll, ihre Töchter früh zu verheiraten, sagt Jejeebhoy. In Indien ist es üblich, dass die Eltern der Braut eine stattliche Mitgift, ein Brautgeld, an die Familie des Bräutigams zahlen und «je jünger das Mädchen, desto niedriger die Mitgift.»
Kommt hinzu: Während der Pandemie seien auch die Hochzeitsfeiern billiger gewesen. Denn nur eine kleine Anzahl Gäste war erlaubt.
Private Hilfsorganisationen als erste Anlaufstellen
Bei der Hilfsorganisation Child Line in Ahmednagar läutete das Telefon während der Pandemie noch öfter als sonst. Die Stadt ist gut drei Autostunden vom Dorf der Kinderbraut Sanjana entfernt. Die Strassen sind schlecht, die Armut gross, Prostitution und Menschenhandel weit verbreitet. Kinderhochzeiten sind in diesem Umfeld an der Tagesordnung.
Für die Betroffenen ist Child Line oft die erste Anlaufstelle. «Meistens erreichen uns die Anrufe vor der Hochzeit», sagt Mitarbeiterin Manjushah Gawde. «Wir informieren dann die Polizei und den lokalen Kinderschutz und versuchen, die Hochzeit zu verhindern.» Im Fall der Kinderbraut Sanjana war es dafür schon zu spät.
Als ihre Mutter die Schutzorganisation anrief, war ihre Tochter bereits verheiratet. Die Polizei habe sich stundenlang geweigert, zu helfen.
Dass häufig weder Polizei noch staatliche Organisationen den Betroffenen helfen, sei eher der Normalfall, als die Ausnahme, sagt die Child-Line-Mitarbeiterin. Kinderhochzeiten seien in Indien zwar illegal, aber die patriarchale Gesellschaft akzeptiere das Verbot nicht. Und der Staat mache zu wenig, um gegenzusteuern.
Das Patriarchat hat die Oberhand
Manisha Biraris ist im Bundesstaat Maharashtra für Frauen- und Kinderschutz zuständig – also in dem Bundesstaat, in dem Sanjana verheiratet wurde. Auf die Frage, ob der Staat zu wenig unternehme, um Kinderhochzeiten zu verhindern, sagt die Beamtin am Telefon: «Mädchen jung zu verheiraten, ist hier ein soziales Gesetz. Darum ist es nicht einfach, gegen die Eltern vorzugehen. Viele verheiraten ihre Kinder im Geheimen.»
In der Pandemie habe ihre Behörde zwar 1000 Kinderhochzeiten verhindern können – aber das sei nur die Spitze des Eisbergs. Auch die Mutter der Kinderschutzbeauftragen Biraris wurde mit 12 Jahren verheiratet. «Gesetze allein könnten dagegen nichts ausrichten», meint Biraris. Wir müssen das ganze Denken der Leute verändern.»
Kinderbraut Sanjana ist am Ende noch einmal davongekommen. Einen Tag nach der Hochzeit wurde sie von ihrer Mutter gefunden – und später mithilfe von Child Line nach Hause gebracht. Alle 18 an der Hochzeit Beteiligten – inklusive Bräutigam, Vater, Grosseltern – müssen sich vor Gericht verantworten.
Ein Happy End ist es trotzdem nicht. Die heute 14-jährige Sanjana ist nie wieder in die Schule zurückgegangen. «Ich arbeite mit meiner Mutter auf dem Feld», sagt sie. «Sie ist ja sonst die Einzige in der Familie, die Geld verdient.» Sanjanas Traum, Krankenschwester zu werden, ist verflogen. Ihre Kindheit war mit der Hochzeit vorbei.