Indische Gerichte hätten laut Verfassung eigentlich sehr viel Macht. Gerade das Oberste Gericht fällt nicht selten politische Entscheide. «Der grösste Unterschied zwischen dem indischen und anderen Justizsystemen liegt darin, wie indische Gerichte ihre Kompetenzen wahrnehmen», sagt Colin Gonsalves, Anwalt am Obersten Gericht.
Indische Richterinnen und Richter haben viel Spielraum, können aus eigenem Antrieb aktiv werden, wenn sie finden, die Regierung oder die Verwaltung machten nicht genug. Da reiche eine Postkarte, sagt Gonsalves. «Richter haben welche aus Gefängnissen erhalten, auf denen stand: ‹Ich werde gefoltert›, und haben darauf reagiert.»
Gonsalves ist ein bekannter Menschenrechtsanwalt, der auch Fälle von mittellosen Inderinnen und Indern übernimmt. Wenn die Regierung versage, sei es an den Gerichten, das Volk zu vertreten, vor allem, wenn dieses seine Rechte gar nicht kenne, sagt er.
In diesen Fällen kommt die sogenannte «Public interest litigation» zum Zug, eine Besonderheit im indischen und pakistanischen Recht. Damit können nicht nur direkt Geschädigte vor ein Gericht treten, sondern jeder, der ein öffentliches Interesse an dem Fall erkennt.
System ermöglicht Klageflut
Das Problem: Wenn jeder und jede in allen möglichen Belangen Klage einreichen kann, führt das zu einer gewaltigen Klageflut. Allein am Obersten Gericht warten über 73'000 Fälle auf ihre Behandlung.
In allen Gerichten des Landes sind es mehrere Millionen. Das Justizwesen in Indien ist überlastet. Ein politisches Problem, so Gonsalves. Denn die Regierung ernenne nicht genügend Richter.
Sie wolle die Justiz «verkrüppeln», sagt er. In der Tat sind im Schnitt vier von zehn Richterstellen nicht besetzt. Kandidaten für einen freien Sitz werden in Indien von Richtergremien der Regierung vorgeschlagen. Eigentlich eine Formsache. Doch in den letzten Jahren hat die Regierung nur wenige Vorschläge angenommen.
Das komme nicht von ungefähr, sagt Prashant Bhushan, auch Anwalt am Obersten Gericht. Die Regierung habe kein Interesse daran, genügend Richter zu ernennen, denn das würde das Justizwesen stärken und es könnte Regierung und Verwaltung besser zu Rechenschaft ziehen. Genau das wolle die Regierung aber nicht.
Zudem ernenne die Regierung meist nur ihr wohlgesinnte Richterinnen und Richter. In den letzten fünf Jahren habe das Oberste Gericht kaum Entscheide gegen die Regierung gefällt.
Richter nach Vorwürfen unter Druck
Der Chef des Obersten Gerichts war bis im April Ranjan Gogoi. Eine zwielichtige Figur, sagt Madan Lokur, ein früherer Richterkollege. Ihm sei sexuelle Belästigung vorgeworfen worden. Eine interne Untersuchung entlastete ihn zwar. Doch viele Fragen blieben offen.
«Das machte ihn womöglich angreifbar», sagt Lokur. Gogoi fällte mehrere umstrittene Urteile, stets zugunsten der Regierung. Unter ihm wurden mehrere Menschenrechtsaktivisten verhaftet, weil sie es wagten, die Regierung zu kritisieren. «Das ist besorgniserregend.»
Der umstrittene Richter erhielt nach seiner Pensionierung von der Regierungspartei einen Sitz in der zweiten Kammer des Parlaments. Ein Affront für dessen früheren Arbeitskollegen Lokur. Schon als die Kongresspartei an der Macht war, wurde das Recht arg strapaziert.
Doch die Regierung von Narendra Modi foutiere sich regelrecht darum, sagt Lokur. Der Respekt vor dem Recht sei geschwunden. Die indische Justiz ist marode und korrupt. Dies aber nicht allein wegen des Justizsystems an sich, sondern weil die Politik das so will.