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Klimamigration bisher weitgehend unterschätzt
Aus Echo der Zeit vom 13.09.2023. Bild: AP Photo/ Luc van Kemenade
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Klimamigration Klimawandel zwingt Hunderte Millionen Menschen zur Flucht

Der Klimawandel wird in den kommenden Jahrzehnten weltweit Hunderte Millionen Menschen dazu zwingen, ihre Heimat zu verlassen. Nach internationalem Recht ist der Klimawandel aber kein Grund, eine Person als Flüchtling anzuerkennen. Das wirft Fragen auf.

Dass Menschen bereits heute wegen des Klimawandels fliehen müssen und in Zukunft noch viel öfters, das werde in der Öffentlichkeit noch viel zu wenig verstanden, sagt Christian Huggel, Professor am Geographischen Institut der Universität Zürich. Viele seien sich der Dimension noch nicht ganz bewusst, sagt er und fügt an: «2050 geht man davon aus, dass eine Milliarde Menschen dem Meeresspiegelanstieg ausgesetzt sein werden.»

Auch die wissenschaftliche Forschung müsse der Klimamigration mehr Aufmerksamkeit widmen, betont Christian Huggel – auch in der Schweiz. Huggel sagt, obwohl der Felssturz in Brienz GR nichts mit dem Klimawandel zu tun habe, habe man einen Vorgeschmack bekommen, wie gross der Aufwand gewesen sei, die Bewohnerinnen und Bewohner zu evakuieren. Man stelle sich vor, man hätte diesen Aufwand bei einer Milliarde Menschen.

Klimawandel ist kein Fluchtgrund

Huggel leitet ein neues, interdisziplinäres Forschungsprojekt der Universität Zürich, das sich der Klimamigration widmet. Mit dabei ist Johannes Reich, Professor für Öffentliches Recht, Umwelt und Energierecht. Er erklärt, dass der Klimawandel in der Praxis immer öfter ein Fluchtgrund sei. Anerkannt werde er in der UNO-Flüchtlingskonvention jedoch nicht.

«Flüchtlinge sind Personen, die ihren Heimatstaat verlassen, wenn sie wegen ihrer Rasse, Religion, Nationalität oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen ihrer politischen Anschauung Nachteilen ausgesetzt sind, die begründete Furcht auslösen, dass sie an Leib und Leben gefährdet sind und deswegen das Land verlassen», erklärt Reich.

Zwei Menschen ziehen einen Schlitten mit Treibstoffbehältern durch die Lagune zu ihrem Boot.
Legende: Eine Gemeinde in Alaska stimmte wegen des steigenden Meeresspiegels und des Verlusts des schützenden Meereises bereits zwei Mal für eine Umsiedelung ab. Die Menschen lehnten beide Male ab. Es ist zu teuer für sie. AP Photo/Jae C. Hong

Direkt kann der Klimawandel also nicht als Fluchtgrund gelten. Indirekt aber schon, meint Johannes Reich. Dann, wenn die Folgen des Klimawandels zur Diskriminierung von bestimmten Bevölkerungsgruppen führten, also wenn beispielsweise Land knapp wird und bestimmte Ethnien besonders verfolgt würden.

Beispiel Kiribati

Box aufklappen Box zuklappen

Johannes Reich verweist auf einen exemplarischen Fall. Ein Bewohner des Pazifik Inselstaats Kiribati habe vor kurzem in Neuseeland einen Asylantrag eingereicht, mit der Begründung, der Klimawandel raube ihm seine Heimat. Denn die Pazifikinseln sind vom steigenden Meeresspiegel in ihrer Existenz bedroht.

Dieser Antrag wurde vom Höchstgericht verworfen, weil der geltend gemachte Grund nicht unter die Fluchtgründe in der UNO-Flüchtlingskonvention fiel. «Das Gericht und auch ein UNO-Gremium hat aber anerkannt, dass das in Zukunft sich tatsächlich ändern könnte, mindestens in diesen Konstellationen, wo es im Staat selbst tatsächlich keine Ausweichmöglichkeit gäbe», sagt Reich.

Die allermeisten Menschen, die aufgrund des Klimawandels ihr Zuhause verlassen, fliehen derzeit aber gar nicht über Staatsgrenzen, sondern suchen innerhalb ihres Heimatlandes Zuflucht an einem anderen Ort als sogenannt intern Vertriebene. Deshalb bringe eine Anpassung des Flüchtlingsbegriffs diesen Menschen kaum etwas, gibt Rechtsprofessor Reich zu bedenken.

Ihnen wäre viel mehr geholfen, wenn sie bei der Anpassung an den Klimawandel unterstützt würden. Wenn also Gebiete widerstandsfähiger gegen den Klimawandel gemacht werden, indem die Bewässerung verbessert oder an anderen Orten der Hochwasserschutz ausgebaut würde.

Die Frage wird sein, ob diese Anpassungsmassnahmen auch in finanzieller Hinsicht irgendwann an Grenzen kommen.
Autor: Johannes Reich Professor für Öffentliches Recht, Umwelt und Energierecht

Schon jetzt wirft das in vielen Ländern des Südens rechtliche Fragen auf, zum Beispiel: Wer hat Anrecht auf Entschädigung? Und wer soll das bezahlen? Diese Fragen werden uns auch in der Schweiz zunehmend beschäftigen, ist Johannes Reich überzeugt.

«Die Frage wird sein, ob diese Anpassungsmassnahmen auch in finanzieller Hinsicht irgendwann an Grenzen kommen und ob man zu einem Entscheid kommen muss, ob man bestimmte Wohnhäuser oder ganze Siedlungen räumen muss.»

Klar scheint jedoch: Je schneller es uns gelingt, den Klimawandel abzubremsen und uns an die Folgen anzupassen, desto weniger Menschen müssen ihre Heimat wegen des Klimawandels verlassen.

Echo der Zeit, 13.9.2023, 18:00 Uhr

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