Seit gut drei Wochen ist Bolivien im Ausnahmezustand: Generalstreiks, Proteste, Unruhen. Jetzt scheint sich die Lage langsam zu beruhigen, wie der Schweizer Luzius Ammann aus Santa Cruz berichtet.
SRF News: Wie sieht derzeit ein normaler Tag für Sie in Santa Cruz aus?
Luzius Ammann: Seit drei Wochen herrscht Generalstreik – Schulen, Restaurants, Shopping-Malls waren geschlossen. Nur einige Supermärkte waren geöffnet und das nur zu reduzierten Zeiten. Das Leben auch hier in Santa Cruz stand praktisch still. Viele Menschen waren mit dem Fahrrad unterwegs, motorisierten Verkehr gab es praktisch keinen.
Ihre Kinder gingen also nicht zur Schule?
Nein, sie sind zu Hause. Ihre Schule schickt jeden Tag ein paar Aufgaben per E-Mail, damit der Schulstoff nicht ganz verloren geht. Doch meist spielen die Kinder mit ihren Freunden draussen. Weil sie jetzt viel mehr Zeit ums Haus herum verbringen als normalerweise, haben sie viele andere Kinder kennengelernt.
Wie sieht es mit der Versorgung mit Wasser, Strom oder Internet aus?
Das hat alles immer funktioniert. Auch der Lebensmittelversorgung wurde von den Organisatoren des Widerstands und des Generalstreiks hohe Priorität eingeräumt.
Die Situation in Bolivien ist unruhig, es ist zu Plünderungen und Brandstiftungen gekommen – können Sie sich noch frei im Land bewegen?
Es kommt sehr darauf an, wo. Hier in Santa Cruz ist die Lage relativ ruhig und sicher. In anderen Teilen des Landes ist die Situation prekärer, etwa in La Paz. Dort kam es in den letzten Tagen zu grossen Unruhen und Auseinandersetzungen zwischen Anhängern und Gegnern von Morales.
Hat sich die Situation seit dem Rücktritt von Morales am Wochenende verändert?
Die Nachricht, dass Morales das Land in Richtung Mexiko verlassen habe, hat eine leichte Entspannung gebracht. Da er sich aber weiterhin intensiv per Twitter äussert, blieb die Lage vorerst angespannt. Er feuert seine Anhänger an, den Widerstand fortzuführen.
Die Menschen feiern auf der Strasse – die Erleichterung in der Bevölkerung ist riesig.
Doch seit der Ernennung von Interimspräsidentin Jeanine Añez am Dienstagabend herrscht eine ganz andere Stimmung. Die Menschen feiern auf der Strasse, der Generalstreik soll jetzt beendet werden. Die Erleichterung in der Bevölkerung ist riesig.
Werden die Proteste der Morales-Anhänger jetzt nachlassen?
Das hoffen zumindest viele. Es wird auch öffentlich dazu aufgerufen, die Meldungen von Morales und seinen Gefolgsleuten in den sozialen Medien zu ignorieren, damit das Ganze möglichst rasch versandet.
Morales’ Regierungsbilanz ist nicht nur negativ – er hat viel gegen die Armut getan, die Wirtschaftsleistung von Bolivien ist gestiegen. Fürchten Sie den politischen Wechsel, der jetzt vermutlich kommt?
Diese Frage hatten sich viele schon vor den Wahlen vom 20. Oktober gestellt, doch in den letzten drei Wochen war das kaum mehr ein Thema.
Das Wirtschaftswachstum unter Morales fusst teilweise auf Geldwäscherei und Drogenhandel.
Man muss sehen, dass das Wirtschaftswachstum unter Morales teilweise auch fiktiven Charakter hat und auf Geldwäscherei und Drogenhandel basiert. Die Bevölkerung will jetzt aber die Demokratie und das Vertrauen in eine fähige und vertrauenswürdige Regierung zurückerhalten.
Morales hat aus dem Exil angekündigt, er wolle um jeden Preis zurückkehren. Löst das gewisse Befürchtungen aus?
Die Ungewissheit ist sicher immer noch vorhanden. Immerhin weiss man jetzt aber, dass das Militär hinter der Interimspräsidentin steht. Inzwischen lösen die Twitter-Nachrichten von Morales bei vielen Bolivianerinnen und Bolivianern bloss noch Spott aus.
Das Gespräch führte Salvador Atasoy.