«Ich habe ein Geschenk für alle, die nach dem Weihnachtsessen vor sich hindösen», sagte der britische Premierminister Boris Johnson an Heiligabend. Und hielt einen Stapel Papier hoch: den Handelsvertrag mit Brüssel, der einen geordneten Austritt aus dem Binnenmarkt und der Zollunion mit der EU erlauben soll.
«Der Deal», so Johnson weiter, «ist die Basis für eine glückliche und stabile Partnerschaft mit unseren Freunden in der EU».
Die Weihnachtsgans ist längst verdaut. Mittlerweile haben sich die Sachverständigen im Königreich über das 1246 Seiten starke Abkommen gebeugt. «Dick, kompliziert, aber doch nicht so umfassend und genial, wie Johnson dies am Weihnachtsabend dem Publikum suggerieren wollte», erklärt SRF-Korrespondent Patrik Wülser.
Stellvertretend dafür steht die Einschätzung der Rechtsprofessorin Catherine Barnard von der Cambridge-Universität: «Es ist ein extrem komplizierter Deal. Der Text ist voller Regeln und Querverweise. An vielen Stellen erkennt man, dass er in aller Eile fabriziert wurde.»
In vielen Fragen hat man den Ball erst ins hohe Gras gespielt. Man lässt die Dinge ruhen, lässt sie offen oder verhandelt später.
Während Brexit-Befürworter oft und gerne Vergleiche zur souveränen Schweiz im Herzen Europas heranzogen, zieht Barnard ganz andere Parallelen: «Der Deal läuft auf viele weitere bilaterale Abkommen heraus, wie sie die Schweiz mit der EU hat.»
Für Wülser hat der britische Premier zwar Wort gehalten: Grossbritannien behält mit dem Abkommen seine Souveränität. «Das müssen seine Kritiker neidlos anerkennen. Johnson hat in Rekordzeit geliefert, was er versprochen hat.»
Kurz: Ein Freihandelsvertrag und Kontrolle über Grenzen, Geld und Gesetze. «Die Personenfreizügigkeit ist beendet, es gibt keine Zahlungen mehr nach Brüssel und der Europäische Gerichtshof ist für Grossbritannien irrelevant geworden», fasst Wülser zusammen.
Weniger Pflichten – weniger Rechte
Für diese Souveränität bezahle Grossbritannien aber einen hohen Preis. «Das Abkommen ist dünn. Es regelt eigentlich nur den Zoll und quotenfreien Güterverkehr.» Will heissen: Viele Fragen bleiben noch offen.
Wülser zählt eine ganze Reihe gewichtiger Bereiche auf, in denen sich London und Brüssel noch einigen müssen: gemeinsame Datenschutzbestimmungen, die gegenseitige Anerkennung der Finanzplätze und Berufsqualifikationen, die Teilnahme britischer Studierender am Erasmus-Programm.
Unweigerlich werden Erinnerungen an zähe Kämpfe von Generationen von Bundesräten und Chefunterhändlern in der EU-Zentrale wach.
Wülsers Fazit zum Vertragswerk: «In vielen Fragen hat man den Ball erst ins hohe Gras gespielt. Man lässt die Dinge ruhen, lässt sie offen oder verhandelt später.» Dies, so die Befürchtung britischer Experten, wird weiterhin viele Kräfte binden. «Verbunden mit grossen Reibungsverlusten und Planungsunsicherheiten», sagt Wülser.
Grossbritannien braucht die EU
Strapaziösen Nachverhandlungen eine Absage zu erteilen, ist keine Option. An Heiligabend war Premier Johnson denn auch sichtlich bemüht, die Nähe der britischen Inseln zum europäischen Kontinent zu betonen. Geradezu poetisch zitierte er die gemeinsame Geschichte und Werte, und machte sogar Ausflüge in die Geologie.
«Das war nicht nur freundlich, sondern auch geschickt», bilanziert Wülser. Denn: Die EU bleibe der grösste Markt für Grossbritannien und Brüssel sitze auch künftig geografisch und handelspolitisch am längeren Hebel. «Es lohnt sich also, die EU bei zu Laune zu halten.»