Die Zerstörungskraft von Atomwaffen ist immens. Entsprechend wichtig ist der sogenannte Atomsperrvertrag, das wichtigste multilaterale Abkommen, das die Weiterverbreitung von Atomwaffen verbietet und zur atomaren Abrüstung verpflichtet. Doch der Vertrag steht gewaltig unter Druck. Er müsste dringend gestärkt und erweitert werden. Dies soll dieser Tage an einer UNO-Konferenz in New York passieren. Die Schweiz wird vertreten von Bundespräsident Ignazio Cassis. Im Interview mit SRF stellt er in Aussicht, dass bald auch die Schweiz dem Atomverbotsvertrag beitreten könnte.
SRF News: UNO-Generalsekretär António Guterres sagte zum Auftakt der Konferenz, das Risiko eines Atomkriegs sei grösser als je zuvor seit dem Höhepunkt des Kalten Krieges – teilen Sie diese Einschätzung?
Ignazio Cassis: Ja. Gerade die militärische Aggression gegen die Ukraine hat gezeigt, dass Nuklearwaffen immer noch eine Rolle spielen können.
Viele Länder haben hochrangige Vertreter für die Überprüfungskonferenz nach New York geschickt. Sie als Bundespräsident und Aussenminister vertreten die Schweiz. Warum ist diese Konferenz so wichtig?
Die Gefahr, die Risiken waren seit Jahrzehnten noch nie so hoch wie gerade heute. Wir müssen dafür sorgen, dass der Atomsperrvertrag, der Nichtweiterverbreitungsvertrag von 1970. besser implementiert und stärker durchgesetzt wird. Dazu kommt: Wir müssen auch die Wirkungen eines neuen Vertrags beurteilen, des UNO-Atomverbotsvertrags von 2017. Die Schweiz hat diesen Vertrag bisher nicht unterschrieben. Jetzt, bei der Überprüfungskonferenz, wollen wir die Fragen klären: Ist der neue Vertrag nützlich? Stärkt er den alten Atomsperrvertrag oder ist er eine Belastung für diesen zentralen Vertrag?
Die Atomkonferenz wurde – wegen der Corona-Pandemie – mehrfach verschoben. Nun findet sie vor dem Hintergrund hoher geopolitischer Spannungen statt. Ist der Zeitpunkt nicht ausgesprochen schlecht für Fortschritte?
Man könnte dies tatsächlich annehmen, ich bin aber vom Gegenteil überzeugt. Gerade weil wir jetzt mit eigenen Augen sehen, dass ein grosser Krieg in Europa wieder möglich ist, steigt auch die Bereitschaft, sich mit der Problematik der Atomwaffen auseinanderzusetzen. Zumal die Drohungen aus Russland die Angst vor Nuklearwaffen geschürt haben.
Welche Rolle kann ein Land wie die Schweiz, ein Land ohne Atomwaffen, auf dieser UNO-Konferenz spielen?
Eine wichtige Rolle. Wir konnten, zusammen mit anderen Ländern, ein Paket schnüren, das dreissig Massnahmen enthält, die jetzt während den Verhandlungswochen in New York geprüft werden. Diese Massnahmen sollen eine Stärkung des Atomsperrvertrages bewirken. Natürlich wird es dazu intensive Diskussionen geben, aber Länder wie die Schweiz können hier einen Beitrag leisten. Die Schweiz schlägt zudem einen Mechanismus vor, der eine nukleare Eskalation verhindern soll.
Der Druck der internationalen Gemeinschaft für nukleare Abrüstung ist gross.
Und ich habe soeben gegenüber Rafael Grossi, dem Chef der UNO-Atombehörde IAEA, für sieben Prinzipien plädiert, welche die zivile Nutzung der Atomenergie auch in Kriegszeiten sicherer machen sollen. Wir haben in der Ukraine gesehen, dass auch Atomkraftwerke militärisch angegriffen werden. Wir befürchten, dass das zu einem Atomunfall führen kann. Deshalb formulieren wir sieben Prinzipien, die auch in militärischen Konflikten respektiert werden müssen.
Sie haben das von der Schweiz und weiteren Ländern vorgeschlagene Massnahmenpaket zur Eindämmung nuklearer Risiken erwähnt. Was stellen Sie sich konkret vor?
Zum einen stärkeren Schutz, mehr Sicherheit für die zivile Nuklearinfrastruktur. Zum andern die Förderung der atomaren Abrüstung. Jene Länder, die Atomwaffen besitzen, sollen konkrete Abrüstungsschritte unternehmen. Die USA beispielsweise zeigen sich hier in New York offen für solche Ansinnen. Gewiss, es wird nicht einfach. Aber der Druck der internationalen Gemeinschaft für nukleare Abrüstung ist gross.
Wie sehen Sie die Chancen für eine Stärkung des Atomsperrvertrags am Ende der gut dreiwöchigen Verhandlungen in New York?
Stand heute scheinen mir die Aussichten nicht schlecht. Das Bewusstsein für die Risiken ist momentan sehr hoch. Was in den nächsten Tagen und Wochen diskutiert wird, ist schwierig vorauszusehen. Aber aus meiner Sicht sind die Chancen für Fortschritte intakt.
Wenn es hingegen auf der jetzigen Konferenz zum Atomsperrvertrag keine Fortschritte gibt, wäre das ein Grund für die Schweiz, doch noch dem neueren und weitergehenden UNO-Atomverbotsvertrag beizutreten, der verlangt, sämtliche Atomwaffen sofort zu eliminieren?
Das wäre sicher ein Argument bei der Bewertung dieses neuen Vertrages von 2017. Der Bundesrat hat ja beschlossen, diesen Vertrag nächstes Jahr neu zu prüfen. Ich erinnere daran, dass ihm bisher nur sehr wenige europäische Länder beigetreten sind und kein einziges Land, das selber Atomwaffen besitzt. Die entscheidende Frage ist deshalb: Kann dieser neue Vertrag den alten Atomsperrvertrag unterstützen und stärken? Dann hätte auch die Schweiz ein grosses Interesse am neuen Atomverbotsvertrag.
Oder aber ist dieser neue Vertrag eher eine Belastung für den alten, indem die Atommächte isoliert oder in die Ecke gedrängt werden, ohne dass das irgendeine positive Wirkung auf deren Bereitschaft zur atomaren Abrüstung hätte? Das sind komplexe Fragen, die sich stellen bezüglich der Wechselwirkung dieser beiden Verträge. Ich erhoffe mir, dass die kommenden drei Wochen hier in New York Klärung schaffen, damit der Bundesrat solide Grundlagen bekommt für seine Entscheidung im kommenden Jahr.
Das heisst: Ein baldiger Schweizer Beitritt zum UNO-Atomverbotsvertrag ist möglich…
Ja, das ist sicher möglich. Wie gesagt – die Entscheidung wird der Bundesrat treffen. Dies nach einer ausführlichen Evaluation unter Beizug externer Experten.
Das Gespräch führte Fredy Gsteiger.