Bundespräsidentin Simonetta Sommaruga ist ins Kriegsgebiet der Ostukraine gereist. Über den Krieg wird in der Öffentlichkeit kaum noch gesprochen, obwohl die Situation nach sechs Jahren weiterhin brenzlig ist. SRF-Korrespondent David Nauer über einen Krieg, der zur Normalität geworden ist.
SRF News: Wie ist die aktuelle Lage in der Ostukraine?
David Nauer: Es wird immer noch gekämpft. Die OSZE ist mit Beobachtern vor Ort und meldet jeden Tag hunderte von Verstössen gegen die Waffenruhe. Immer wieder gibt es Todesopfer. Allein die Ukrainer haben in diesem Jahr bereits gegen 40 getötete Soldaten gemeldet.
Der Konflikt dreht sich im Kreis. Wie gestaltet sich der Alltag für die Menschen?
Schwierig. Von meinem letzten Besuch in der Region weiss ich, dass auf der ukrainischen Seite nur die unmittelbaren Frontgebiete vom Krieg betroffen sind. Fährt man einige Kilometer von der Front weg, herrscht fast normales Leben. Anders ist es in den international nicht anerkannten «Volksrepubliken», also den Separatistengebieten. Dort leben die Menschen permanent in einer Ausnahmesituation.
Wie autonom funktionieren die selbsternannten Republiken Donetsk und Luhansk?
Sie haben eine eigene Verwaltung, eine eigene Armee und eine Art eigene Identität. Sie sind aber enorm von Russland abhängig. Man muss dazu sagen, dass die Gebiete für Journalisten schwer zugänglich sind – auch schon vor Corona und jetzt erst recht. Die Informationen, die man bekommt, zeichnen ein Bild von extrem autoritären Regimen und zunehmenden wirtschaftlichen Problemen.
Russland scheint ein doppeltes Spiel zu spielen.
Kürzlich streikten etwa Bergbauarbeiter in der Region, weil sie ihre Löhne nicht mehr bekommen haben. Der Geheimdienst der Separatisten griff ein und nahm mehrere Streikende fest. Sie verschwanden für einige Zeit in den Kellern der Sicherheitsbehörden.
Die selbsternannten Republiken sind demnach stark abhängig von Russland. Es befeuert den Konflikt also weiter?
Russland scheint ein doppeltes Spiel zu spielen: Bei den Verhandlungen in Minsk verhält es sich wie eine unbeteiligte Macht, wie ein Beobachter. Es beharrt darauf, dass die Ukrainer direkt mit den Separatisten verhandeln – denn Russland selbst sei ja keine Konfliktpartei. Faktisch versorgt Moskau die Separatisten aber mit Waffen und Geld.
Durch den Konflikt hat sich der West-Kurs der Ukraine noch verstärkt.
Das heisst: Ohne Russland gäbe es die «Volksrepubliken» gar nicht. Hinzu kommt, dass der Kreml begonnen hat, sehr aktiv russische Pässe an die Bewohner dieser Gebiete zu verteilen. In Zukunft wird Russland also stets sagen können, dass dort seine Bürger leben und es damit sein Einflussgebiet ist.
Moskau wurde immer vorgeworfen, es gehe vor allem darum, zu verhindern, dass sich die Ukraine dem Westen – namentlich der EU – annähert. Ist das gelungen?
Nein, im Gegenteil. Durch den Konflikt hat sich der West-Kurs der Ukraine noch verstärkt. Aber die anhaltenden Kämpfe schwächen die Ukraine, einerseits wirtschaftlich. Denn sie schrecken Investoren ab. Andererseits geht es auch politisch viel weniger schnell voran als es nötig wäre. Gerade bei der Korruptionsbekämpfung und anderen Reformen.
Manchmal hat man den Eindruck, dass die ukrainische Elite den Krieg als Ausrede nimmt, keine Reformen voranzutreiben. Das lähmt die Entwicklung im Land – auch die Entwicklung hin zu Europa und hin zu Werten wie Rechtsstaat und Demokratie.
Das Gespräch führte Roger Brändlin.