Nach fünf Jahren Krieg, vielen Opfern und unzähligen gescheiterten Friedensverhandlungen scheint ein Waffenstillstand in der Ostukraine nun zu halten. Wie es dazu kommt, erklärt SRF-Korrespondent David Nauer.
SRF News: Wieso wird der Waffenstillstand jetzt schon seit mehreren Monaten eingehalten?
David Nauer: Wir wissen nicht, woran es liegt. Aber Kriegsmüdigkeit könnte durchaus eine Rolle gespielt haben. Die Konfliktparteien sitzen seit Jahren in ihren Schützengräben und schiessen aufeinander. Es gibt aber kaum Bewegungen an der Front. Nun hat sich scheinbar auf beiden Seiten die Erkenntnis durchgesetzt, dass das nichts bringt.
Der Kreml hat offenbar die prorussischen Separatisten in der Ukraine angewiesen, die Waffen ruhen zu lassen. Was steckt dahinter?
Man kann zumindest vermuten, dass der Kreml ein Machtwort gesprochen hat. Genau wissen wir es nicht. Hintergrund könnte sein, dass die Russen einen Strategiewechsel versuchen. Bei den Verhandlungen in Minsk, die seit Jahren laufen, hat die Ukraine gefordert, erst müsse die Gewalt aufhören, dann könne man über politische Zugeständnisse reden.
Die einzige Legitimation der Separatisten ist, dass gekämpft wird.
Nun können die Separatisten – respektive die Russen – von den Ukrainern Zugeständnisse verlangen. Es geht um den künftigen Status der Separatistengebiete und ob die Ukraine die sogenannte Separatistenregierung als gleichwertige Gesprächspartner anerkennt. Bisher hat Kiew das abgelehnt.
Was bedeutet es für die prorussischen Separatisten, wenn sich die Lage entspannt?
Einerseits ist es eine Aufwertung für die Separatisten, denn die Ukrainer sollen direkt mit ihnen reden. Jedenfalls will Moskau das, um die These zu stärken, dass es sich hier um einen innerukrainischen Konflikt handle. Andererseits geraten die Separatisten durch den Waffenstillstand unter Druck. Ihre einzige Legitimation ist ja, dass gekämpft wird.
Man bekommt den Eindruck, dass gewisse Leute der Gewalt fast nachtrauern.
Wenn nun die Ukraine nicht mehr schiesst, kann man sich fragen, wofür es dieses Separatistenregime mit seinem aufgeblähten Militärapparat noch braucht. Die Separatisten geraten unter Rechtfertigungsdruck. Jemand in Donezk hat mir erzählt, dass die Separatisten auch nach Monaten des Waffenstillstands noch so tun, als ginge der Krieg weiter. Sie betonten, dass Krieg sei, obwohl gar nicht mehr geschossen wird. Man bekommt den Eindruck, dass gewisse Leute der Gewalt fast nachtrauern.
Der ukrainische Präsident Wladimir Selenski ist mit dem Versprechen angetreten, den Krieg im Osten des Landes zu beenden. Wie hat er sein Militär überzeugt?
Er hat einfach einen Befehl erlassen, dass die Armee nicht mehr schiessen und auch nicht mehr zurückschiessen darf, wenn sie angegriffen wird. Befehl ist Befehl. Es gibt diesen klaren politischen Willen in Kiew: Wir schiessen nicht mehr.
Ist dies ein Erfolg für Selenski?
Klar, das ist ein riesiger Erfolg für ihn. Es war sein grösstes Wahlversprechen, den Krieg zu beenden.
Legitimerweise will die Ukraine die Kontrolle über ihr eigenes Staatsgebiet zurück.
Wie fragil ist die Situation? Kann sie sich wieder ändern?
Ja, das kann sich leider jederzeit wieder ändern und die Menschen, die dort leben, sagen zum Teil, sie würden diese Ruhe nicht ganz trauen. Es kommt nun darauf an, ob es eine politische Lösung gibt und eine solche ist weiterhin nicht absehbar. Legitimerweise will die Ukraine die Kontrolle über ihr eigenes Staatsgebiet zurück. Aber auch Russland möchte seinen Einfluss in der Region via Separatistenregime behalten. Wie eine Lösung aussehen soll, ist unklar. Doch es ist eine gute Nachricht, dass nicht mehr geschossen wird.
Das Gespräch führte Hans Ineichen.