Seit Tagen zieht Russland Truppen an der ukrainischen Grenze und auf der annektierten Halbinsel Krim zusammen. Beobachter wie Sergei Sumlenny werten dies als bedrohliche Entwicklung. Was der russische Präsident Wladimir Putin allerdings im Schild führt, ist offen.
SRF News: Für wie explosiv halten Sie die Lage?
Sergej Sumlenny: Sie ist in der Tat sehr explosiv. Wir haben seit 2014, also seit dem Ausbruch des Krieges, keine solche Konzentration von Truppen gesehen. Russische Verbände stehen an der ukrainischen Grenze, in den besetzten Gebieten auf der Krim und in der Ostukraine; 100’000 Mann und schweres Gerät, einschliesslich Kurzstreckenraketen, Dutzende von Jagdfliegern und von Bombern, einschliesslich sechs grosse Landungsschiff im Schwarzen Meer. Ich denke, es ist etwas mehr als eine normale Übung, wie Russland angibt.
Beunruhigt dies die Menschen in der Ukraine?
Interessanterweise und erstaunlicherweise ist die Stimmung in Kiew sehr ruhig, erschreckend ruhig. Manchmal aber tauchen Funken der Angst auf: Vor einer Woche hat das Kiewer Rathaus eine interaktive Karte von bombensicheren Bunkern ins Netz gestellt mit dem Hinweis, dass sich die Bevölkerung im Falle einer Bombardierung dorthin retten könne. Dies löste in den sozialen Netzwerken Diskussionen aus.
Sie denken nicht, dass eine Grossoffensive geplant ist?
Nein, ich rechne nicht mit einer Grossoffensive. Russland, beziehungsweise Putin, versucht, mit schnellen Aktionen Fakten zu schaffen, den Status quo zu ändern und dann will er über die Verhandlungen diesen neuen Status quo zementieren. Ich denke, es geht Russland eher um ein lokales Ziel, wie beispielsweise darum, die Wasserversorgung für die Krim zu garantieren. Und die Truppen entlang der ukrainischen Grenze und in den besetzten Gebieten dienen nur dazu, Macht zu demonstrieren und natürlich ist es auch ein Test für die EU und für die Nato. So kann man abtasten, wie weit man gehen darf. Russland testet immer die Grenzen des Möglichen.
Putin versteht ein Angebot zur Deeskalation als ein Zeichen der Schwäche. Die Entscheidung von Biden, die zwei Kriegsschiffe aus dem Schwarzen Meer abzuziehen, finde ich falsch.
Bräuchte es mehr militärische Präsenz der Nato im Schwarzen Meer?
Unbedingt. Wir haben es vor acht Jahren bei der Krim-Annexion erlebt. Es war die Entscheidung von Obama, die Kriegsschiffe aus dem Schwarzen Meer zurückzuziehen. Er hoffte damals, das deeskaliere die Situation. Allerdings trat genau das Gegenteil ein. Putin versteht ein Angebot zur Deeskalation als ein Zeichen der Schwäche.
Viel hilfreicher wären sektorale Sanktionen, zum Beispiel gegen den Energiesektor, gegen den Bankensektor, gegen Nordstream 2, nicht die zahnlosen Sanktionen gegen einige Individuen.
Die Entscheidung von US-Präsident Biden, die zwei Kriegsschiffe aus dem Schwarzen Meer abzuziehen, finde ich falsch. Im Gegenteil, wenn man Präsenz zeigt, ist das Deeskalation.
Viel hilfreicher wären sektorale Sanktionen, nicht die zahnlosen Sanktionen gegen einige Individuen, sondern sektoralen Sanktionen, gegen den Energiesektor, gegen Bankensektor, gegen Nordstream 2. Das wäre ein Signal, dass man nicht ein grosses europäisches Land mit 100’000 Truppen, Artillerie, Panzern, Jagdbombern, Kurzstreckenraketen, die auch atomar bestückt werden können, offen zu bedrohen kann. Das geht nicht.
Heute Mittwoch spricht Putin zur Lage der Nation. Erwarten Sie da konkrete Aussagen zur Ukraine?
Ehrlich gesagt, nein. Putin verneint die Tatsachen und seine Aktionen, bevor die Lage schon de facto geändert ist. Das war mit der Krim so. Das war mit dem Donbass so. Und es wird, glaube ich auch bei dieser Machtdemonstration so sein, weil er sich immer freien Raum zum Rückzug garantieren will. Wenn es schiefgeht, wird er sagen, er habe nichts gemacht.
Das Gespräch führte Hans Ineichen.