Idlib im Nordwesten Syriens ist vor allem eines: paradox. Einerseits ist sie eine verstaubte, erzkonservative Kleinstadt, in der Männer und Frauen getrennt Restaurants besuchen. Andererseits hat Idlib, wovon viele Syrerinnen und Syrer im Rest des Landes nur träumen können: 24 Stunden Strom und High-Speed-Internet – dank türkischer Glasfaserkabel.
Erkennbar wird dieser Widerspruch etwas ausserhalb der Stadt, in einem der grossen Einkaufszentren: Spiegelglatt polierte Kunstmarmorböden auf drei Etagen, Rolltreppen und Kassen mit modernen Lesegeräten. So etwas gebe es anderswo in Syrien nicht, sagt eine Besucherin.
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Bild 1 von 4. Hochglanz drinnen ... Bildquelle: SRF/Thomas Gutersohn.
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Bild 2 von 4. ... moderne Mall von aussen. Bildquelle: SRF/Thomas Gutersohn.
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Bild 3 von 4. Neuste Technik und grosse Auswahl. Bildquelle: SRF/Thomas Gutersohn.
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Bild 4 von 4. Sogar für die Unterhaltung der Kleinsten ist gesorgt. Bildquelle: SRF/Thomas Gutersohn.
Das Einkaufszentrum gefalle ihr sehr gut. Sie komme bereits zum zweiten Mal hierher, sagt die Frau aus Aleppo. Vor dem Sturz des Assad-Regimes wäre die einstündige Fahrt von Aleppo nach Idlib lebensgefährlich gewesen. «Assad hielt uns in Aleppo gefangen, wir konnten nirgendwo hinreisen.» Das Einkaufszentrum erinnere sie an jene in der Türkei, die sie vor dem Krieg in Syrien mehrmals besuchte.
Über 80 Prozent der Ware hier stammen aus der Türkei.
Der Vergleich mit der Türkei kommt nicht von ungefähr. Während der Rest des Landes von der Aussenwelt abgeschnitten und von Sanktionen belastet war, wurde Idlib beinahe zu einer türkischen Enklave. Türkische Markenprodukte gelangen zollfrei über den nahen Grenzübergang nach Idlib, erklärt der türkische Investor Mehmet Akif Kurt: «Über 80 Prozent der Waren hier stammen aus der Türkei. Der Rest sind lokale Produkte aus der Provinz Idlib.»
Bisher gibt es nur in Idlib solche Einkaufszentren, doch das soll sich nach den Plänen der türkischen Investoren bald ändern. Zuerst in Aleppo, danach sollen aber auch Städte wie Hama und Homs und schliesslich auch Damaskus folgen. Die Rebellen-Regierung sei sehr kooperativ, sagt Mehmet Akif Kurt.
Drastische Realität der Zeltstadt
Doch viele in Idlib können sich die Produkte in den luxuriösen Einkaufszentren gar nicht leisten. Erst recht nicht die etwa zwei Millionen Binnenvertriebenen, die während des Krieges nach Idlib geflohen sind. Sie leben in notdürftigen Zeltlagern, nicht weit von den pompösen Einkaufszentren entfernt.
Kinder spielen in den weiten Grasebenen, weisse Zelte, so weit das Auge reicht. Es sei nicht einfach, hier zu leben, sagt Takhar Hassan Aleh. Die Frau trägt zwei grosse Wasserkanister mit sich. «Im Winter ist es kalt. Wenn es regnet, sind die Zelte feucht. Lebensmittel müssen wir von weit her bringen.» Alles sei teuer, sagt die Frau, und dennoch sei es hier besser als in ihrem Dorf südlich von Idlib. «Hier herrscht wenigstens kein Krieg. Mein Dorf ist völlig zerstört.» An eine Rückkehr sei noch nicht zu denken.
Seit 2018 leben Takhar Hassan Aleh und ihre Familie in diesem Lager ausserhalb von Idlib. Ehemann Hassan lädt in das Innere ihres Zeltes. «Tagsüber ist das unser Wohnzimmer, in der Nacht das Schlafzimmer – gekocht wird in einem Nebenzelt.»
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Bild 1 von 3. «Wir haben hier bereits sieben Jahre ausgeharrt, da spielen ein oder zwei Jahre keine Rolle mehr», sagt Hassan. Bildquelle: SRF/Thomas Gutersohn.
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Bild 2 von 3. Das Leben in der Zeltstadt ist nicht einfach. Bildquelle: SRF/Thomas Gutersohn.
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Bild 3 von 3. Ein Kleinkind spielt im Zeltinneren. Bildquelle: SRF/Thomas Gutersohn.
Suleiman Aleh hat das Wohnzelt mit Girlanden geschmückt. Das mache es ansehnlicher. Die neue Regierung von Achmed al-Scharaa hat Menschen wie ihnen versprochen, sie baldmöglichst wieder in ihre Heimat zurückzubringen.
«Wir haben hier bereits sieben Jahre ausgeharrt, da spielen ein oder zwei Jahre keine Rolle mehr.» Hassan zeigt Verständnis, dass sie für die neue Regierung im Moment keine Priorität seien.