Für Entsetzen in seiner eigenen Partei sorgte Helge Braun von der damals regierenden CDU in einem Kommentar vor einem Jahr. Er plädierte dafür, die Schuldenbremse per Grundgesetz zu ändern, um besser durch die Coronakrise zu kommen. Wo doch die schwarze Null, also nicht zu viele Schulden zu machen, das Markenzeichen der CDU sei, empörte sich ein Parteikollege.
Finanzpolitische Kapitulation nannte es Christian Lindner, damals mit der FDP in der Opposition. Die Schuldenbremse war Lindners Wahlkampfschlager auf dem Weg zum Finanzminister. Nun sind die Vorzeichen umgekehrt: Braun ist in der Opposition und leitet den Haushaltsausschuss. Er verlangt eine besonders strenge Auslegung der Schuldenbremse. Lindner ist Finanzminister und sieht Spielraum: «Ab 2023 werden wir die Vorgaben der Schuldenbremse einhalten.» Nur, was passiert bis dann?
Um ihre immense Transformation der Wirtschaft hin zu Klimaneutralität zu finanzieren, will die Regierung von SPD, Grünen und FDP Corona-Kredite, die die Vorgängerregierung nicht ausgeschöpft hatte, sichern und in den Energie- und Klimafonds verlagern.
Es bestehen schwerwiegende verfassungsrechtliche Bedenken.
Das kommt für Fachleute wenig überraschend. Hans Eichel, SPD-Finanzminister unter Gerhard Schröders rot-grüner Regierung, sah es letzten Herbst im Deutschlandfunk so kommen. Viele Vorhaben der Regierung, aber keine neuen Steuern – um das unter einen Hut zu bringen, werde man Tricks anwenden müssen. «Eine Reihe auch konservativer Ökonomen hat vorgeschlagen nächstes Jahr einen grossen Schluck aus der Kreditpulle zu nehmen.»
Ob diese Umgehung verfassungsrechtlich erlaubt ist, darüber streiten jetzt die Fachleute – und lieferten in der Anhörung des Haushaltsausschusses Argumente für die Parlamentarierinnen und Parlamentarier, die entscheiden müssen, ob sie das so durchwinken.
Die Hauptfrage: Darf man dieses Geld, das ja durch die Corona-Notlage zusammenkommt, in den Klimatopf verschieben – lässt sich das dann überhaupt noch mit der Corona-Notlage rechtfertigen? Nein, sagt Jurist Christoph Gröpl. «Es bestehen schwere verfassungsrechtliche Bedenken. Natürlich geht es um die Bewältigung der Dekarbonisierung. Dafür aber Kredite aufzunehmen, die Notlagen-induziert sind, geht nicht.»
Es ist im Prinzip so etwas wie ökonomisches Long Covid, das sich durch diesen initialen Schock ergeben hat.
Die Klimakrise sei keine aussergewöhnliche Notlage, sagen Kritiker. Ökonomen wie Jens Südekum halten dagegen. Wegen der Coronakrise seien die Investitionen eingebrochen, wie nie zuvor seit dem Zweiten Weltkrieg. Es werde dauern, bis sie Vorkrisenniveau hätten. «Es ist im Prinzip so etwas wie ökonomisches Long Covid, das sich durch diesen initialen Schock ergeben hat.»
Zwischen der Corona- und der Klimakrise bestehe eine enge Verbindung, ist Südekum überzeugt: «Massnahmen des Bundes, die geeignet sind, die pandemiebedingte Investitionskrise zu lösen, stehen in einem engen Konnex zur Pandemie. Insofern sind die Notlagen-Kredite aus Artikel 115 dafür anwendbar.»
Ganz anders Dieter Hugo vom Bundesrechnungshof. Er hält den Nachtragshaushalt für besonders verwerflich – denn die Schuldenregel beruhe auf dem tatsächlichen Bedarf. Mit dem Nachtragshaushalt soll aber Geld in einen längerfristigen Topf hinübergerettet werden.
«Das ist alles unecht, virtuell. Kassenmässig passiert überhaupt nichts mehr im Haushalt 2021. Das ist eine Konterkarierung der Schuldenregel. Über die kalte Küche werden unechte Rücklagen gebildet, die nichts anderes sind als Kreditermächtigungen. Das ist aus unserer Sicht handwerklich schlecht – aber auch verfassungsrechtlich völlig inakzeptabel.»