Mykola Samoilenko diente in einer Sondereinheit der Polizei in Mariupol, als er wenige Tage nach Beginn des Angriffskrieges in russische Kriegsgefangenschaft geriet. Nach knapp zehn Monaten in Gefangenschaft starb er Anfang Januar in der von Russland besetzten Stadt Donezk im Osten der Ukraine.
Die Mutter von Mykola, Natalia Samoilenko, hat nach der Obduktion des Leichnams die Todesursache erfahren: «Sie haben ihn gefoltert und in Haft ständig misshandelt. Er hatte während der Folter einen Herzstillstand.»
In den Monaten zuvor versuchte die Familie verzweifelt an Informationen über den Verbleib von Mykola zu gelangen: «Wir kontaktierten den Inlandsgeheimdienst, das Zentrum, welches sich um Kriegsgefangene kümmert, den Präsidenten, das Internationale Rote Kreuz. Aber wir drehten uns im Kreis und stiessen auf verschlossene Türen.»
Alarmierende Situation
Die UNO versucht die Haftbedingungen für Kriegsgefangene seit Beginn des Angriffskrieges zu dokumentieren. Insgesamt sei die Lage überhaupt nicht gut, erklärt der Sprecher der UNO-Beobachtermission in der Ukraine, Krzysztof Janowski, gegenüber SRF: «In 32 von insgesamt 48 Internierungsorten auf beiden Seiten hat es schwere Misshandlungen gegeben, selbst Folter und Tötungen von Kriegsgefangenen.»
Die UNO kritisiert beide Seiten, geht jedoch davon aus, dass es auf russischer Seite häufiger und während der gesamten Zeit in Haft Misshandlungen gibt: «Auf ukrainischer Seite kommt es während der ersten Phase, wenn Personen in Gefangenschaft geraten, zu den meisten Misshandlungen. Die zweite Phase beginnt mit der Ankunft in den Internierungslagern und hier ist die Situation auf ukrainischer Seite deutlich besser.
Auf der russischen Seite im Gegensatz werden die Gefangenen nicht nur während der Gefangennahme, sondern die ganze Zeit misshandelt, auch während der Internierung.» Wie viele Kriegsgefangene es insgesamt auf beiden Seiten gibt, ist nicht bekannt, ebenso gibt es keine bestätigten Zahlen zu den in Kriegsgefangenschaft Verstorbenen und Getöteten.
Wettlauf gegen die Zeit
Die Erfahrung, dass Folter und Misshandlungen während der Gefangenschaft in Russland allgegenwärtig sind, hat auch Waleria Karpilenko-Subotina gemacht. Sie kam im April nach fast einem Jahr Gefangenschaft frei.
«Wir mussten mit anhören, wie hart die Männer in Haft geschlagen wurden. Ständig hörten wir ihre Schreie», erzählt Waleria Karpilenko-Subotina. Als wir noch im Gefängnis unweit von Donezk sassen, hörten wir, wie ein Gefangener ununterbrochen geschlagen wurde und am Morgen danach wurde seine Leiche rausgetragen. Uns wurde erzählt, er hätte Suizid begangen.»
Waleria macht sich grosse Sorgen: «Jeder Tag kann tödlich sein. Alle unsere Landesverteidiger und Verteidigerinnen können ihrer Gesundheit oder sogar ihr Leben verlieren. Das, was in Russland geschieht, ist nicht Kriegsgefangenschaft, sondern der Versuch, Menschen zu brechen, die zuvor nicht gebrochen wurden.» Waleria versucht in einem Rehabilitierungszentrum unweit von Kiew ein wenig zur Ruhe zu finden.
Hoffnung auf Gerechtigkeit
Die Mutter von Mykola hat bis zuletzt gehofft, dass es sich beim Verstorbenen nicht um ihren Sohn handelt. Seinen Leichnam nach der Rückführung nach Kiew von Auge zu identifizieren war unmöglich, da er zuvor bereits drei Monate in Donezk unter einer Nummer ohne Angabe seines Namens unter der Erde lag. «Sie haben ihn in Donezk dreckig und völlig nackt in einer Plastiktüte begraben», erzählt Natalia.
Eine DNA-Analyse brachte schliesslich die traurige Gewissheit, dass es sich beim Verstorbenen um den 26-Jährigen handelt. «Wir hoffen, dass die Leute, welche ihn getötet haben, zur Verantwortung gezogen werden. Wenn nicht vor einem Gericht hier auf der Erde, dann vor Gott.»