Seit zwei Jahren führt Russland Krieg gegen die Ukraine. Die politische Balance in Europa habe sich verschoben. Nicht mehr die alten EU-Kern-Staaten Deutschland und Frankreich prägten die EU, sondern Staaten im Norden und Osten, sagt der Historiker Oliver Jens Schmitt. Europa werde so auseinanderdividiert.
SRF News: Woran erkennen Sie Bruchlinien in Europa?
Es sind Bruchlinien, die sich seit einiger Zeit abgezeichnet haben. Sie waren auch mit der unterschiedlichen Wahrnehmung der Bedrohung durch Russland verknüpft. Hier haben Länder wie die baltischen Staaten und Polen sehr früh gewarnt, schon nach der Annexion der Krim. Deutlich wurden sie auch bei den Reaktionen auf den russischen Überfall auf die Ukraine vor fast genau zwei Jahren.
Es gibt neutrale Länder, wie die Schweiz oder Österreich, die glauben, dass sie sich auf das Völkerrecht verlassen können, auch in dem Moment, in dem dieses durch Russland gebrochen wird.
Eine Staatenkoalition von Grossbritannien über Skandinavien bis nach Polen hat entschlossen reagiert, während andere Teile Europas, wie Spanien, Italien und Frankreich dies zurückhaltender bewertet haben. Es gibt die einen, die verstehen, worum es geht, dass dies kein Krieg Russlands gegen die Ukraine ist, sondern ein langfristig angelegter Angriff auf Europa. Und es gibt die anderen, die das nicht wahrhaben wollen. Dazu gehören auch Länder wie die Schweiz oder Österreich, neutrale Länder, die wirklich glauben, dass sie sich auf das Völkerrecht verlassen können, auch in dem Moment, in dem dieses durch Russland gebrochen wird.
Was ist mit den grossen europäischen Ländern wie Deutschland, Frankreich, Spanien und Italien los?
Ich glaube, die grosse Problematik hat mit dem Brexit begonnen. Grossbritannien ist ein militärisch relativ potentes Land und hat von allen grossen Europäern am entschlossensten reagiert, was die Ukraine angeht. Italien und Spanien bringen sich, was den Osten Europas anbelangt, kaum ein. Aber es bleiben nur noch Frankreich und Deutschland. Frankreich spricht zwar immer wieder von der strategischen Souveränität Europas, ist aber militärisch überhaupt nicht in der Lage, das irgendwie auch zu unterfüttern. Und die deutsche Bundeswehr ist eigentlich nicht in einem kriegsfähigen Zustand und die deutsche Rüstungsindustrie ist im Moment im Aufbau begriffen. Das sind aber alles Indikatoren, die einen Aggressor wie Putin eher ermuntern müssen, weiterzumachen und nicht in Verhandlungen einzutreten.
Nur wenn wir schnell eine Abschreckung gegenüber Russland erreichen, wird Russland aufhören, als Kriegstreiber in Europa aufzutreten.
Was müssten die alten EU-Länder unternehmen, damit diese Spaltung nicht noch ausgeprägter wird?
Ein ganz zentraler Punkt ist, dass man sich einig wird, was wir im Moment erleben. Wir erleben nicht einen Krieg Russlands gegen die Ukraine, sondern es ist der erste Schritt zur Herstellung einer russischen Hegemonie über den ganzen Kontinent. Das wird in Russland ganz offen gesagt. Dann muss man handeln: Nur wenn wir schnell eine Abschreckung gegenüber Russland erreichen, wird Russland aufhören, als Kriegstreiber in Europa aufzutreten. Gelingt das nicht und kommt Trump im Herbst an die Macht, wird es eine sehr gefährliche Situation geben und dies wahrscheinlich viel schneller, als die meisten von uns erwarten.
Wer – wenn nicht die USA – sollte Europa schützen?
Sie rechnen mit noch mehr Krieg?
Wir müssen davon ausgehen, dass die Ukraine, wenn sie nicht massiv unterstützt wird, vielleicht schon in diesem Jahr ganz massiv unter Druck kommt. Dies wird nicht nur grosse Flüchtlingsströme auslösen, sondern es wird Russland, das auf Kriegswirtschaft umgestellt hat, auch ermuntern, weiterzumachen. Wer – wenn nicht die USA – sollte Europa schützen? Das ist eine neue Realität geworden.
Das Gespräch führte Iwan Lieberherr.