Der Zeitpunkt der Enthüllung von mehreren Korruptionsskandalen in der Ukraine, die vom Verteidigungsministerium ihre Kreise bis in die höchste Etage der Präsidentenadministration ziehen, kommt nicht von ungefähr. Die Ukraine steht vor einer wichtigen Etappe im Krieg.
Es wird befürchtet, Russland könne erneut eine Grossoffensive starten. So ist das Land noch dringender auf Waffenlieferungen angewiesen als in den vergangenen Kriegsmonaten. Präsident Wolodimir Selenski kommt dementsprechend zusätzlich unter Druck.
Waffenlieferungen unter Bedingungen
Seit Beginn der Annäherung der Ukraine an den Westen gehört die Korruptionsbekämpfung zu den Bedingungen für Unterstützungszahlungen und Entwicklungshilfe. Mit Beginn des russischen Angriffskrieges wuchs die Unterstützung auf ein nie davor gewesenes Niveau.
Hinter den Kulissen dürften besonders die USA, die nominell der grösste Waffenlieferant in die Ukraine sind, Druck auf Selenski ausgeübt haben.
Der Feind im Landesinnern
Enthüllt wurde am Wochenende der überteuerte Einkauf von Lebensmitteln für Soldatinnen und Soldaten in der Region der ukrainischen Hauptstadt und einer Grenzregion im Nordosten des Landes. Auf solche Meldungen bleibt Selenski in der aktuellen Situation nichts anderes übrig, als möglichst mit aller Härte zur reagieren.
Damit soll die Moral an der Front hochgehalten und gezeigt werden, dass die Regierung gegen «Feinde im Innern» vorgeht. Vertreter der ukrainischen Armee betonen immer wieder, dass sich seit der Maidan-Revolution viel verändert habe. Vor 2014 sei alles unternommen worden, um die Armee möglichst schwach zu halten.
Präsident unter Zugzwang
Korruption im ukrainischen Verteidigungsministerium spielte eine entscheidende Rolle bei der Wahl Selenskis zum Präsidenten 2019. Sein Vorgänger Petro Poroschenko war in einen Korruptionsskandal rund um die Beschaffung von militärischer Ausrüstung verwickelt. Der Skandal wurde kurz vor den Präsidentschaftswahlen publik und hat ihm rückblickend die Wiederwahl gekostet.
Selenski ist sich nicht zuletzt deswegen sehr bewusst, wie empfindlich gerade auch die ukrainische Zivilgesellschaft auf Korruptionsvorwürfe bei der Armee reagiert. Bereits 2014 war die fehlende Korruptionsbekämpfung der Hauptmotor für den politischen Wandel und die Abkehr von Russland. Es waren Antikorruptions-Demonstrationen, die im Winter 2013/14 schlussendlich im Sturz von Wiktor Janukowitsch mündeten.
Ein Köpferollen aus Gründen
Bei allen sechs entlassenen Regierungsbeamten und fünf ukrainischen Gouverneuren scheinen die Vorwürfe der Korruption nachweisbar zu sein. Dass mit Kirill Timoschenko auch der stellvertretende Leiter der Präsidentenadministration seinen Rücktritt bekannt gegeben hat, ist ein Zeichen an andere ranghohe Regierungsvertreter: Damit wird deutlich, dass keine Nähe zum Präsidentenamt vor Konsequenzen bei Korruptionsvorwürfen schützt. Gegen Timoschenko wurden bereits vor Beginn des Krieges im Februar 2022 mehrmals Vorwürfe wegen Korruption laut.
Dass der stellvertretende Generalstaatsanwalt Aleksej Simonenko wegen einer Reise nach Spanien seinen Posten verloren hat, ist angesichts der Lage im Land ebenso ein deutliches Zeichen an die politischen Eliten, dass ein luxuriöser Lebensstil in Kriegszeiten nicht toleriert wird. Der Skandal um die Beschaffungen in der Armee dürfte noch zu weiteren Rücktritten im Verteidigungsministerium führen.