Die Hafenstadt Odessa am Schwarzen Meer ist unterirdisch von einem weit verzweigten Netz von Tunneln durchzogen. Die Katakomben dienten einst als Steinbruch für den Häuserbau und wurden im Laufe der vergangenen zweihundert Jahre von Dieben ebenso geschätzt wie von Partisanen und schutzsuchenden Zivilisten während des Zweiten Weltkrieges. Seit Russland der Ukraine der Krieg erklärt hat und auch in Odessa mehrmals pro Woche Sirenenalarm ertönt, fliehen die Menschen bei Möglichkeit wieder dorthin.
Wladimir lebt in einem Dorf ein wenig ausserhalb der Stadt. In Friedenszeiten führte er Touristen durch die Katakomben und ein Museum, das in Erinnerung an die Partisanen nach dem Zweiten Weltkrieg eröffnet wurde. «Hier haben sich die Menschen in den vergangenen Wochen eingerichtet und während dem Sirenenalarm übernachtet», erzählt Wladimir.
Er leuchtet mit seiner Taschenlampe auf Schlafsäcke und Wasserflaschen zwischen den Museumsexponaten aus der Sowjetunion. «Mein Neffe hat mit dem Handy eine Rakete gefilmt, die über das Dorf geflogen ist», erzählt er kopfschüttelnd.
Abgeriegeltes Zentrum
Knapp 110 Kilometer Luftlinie von Odessa entfernt tobten in den ersten Wochen des Krieges schwere Kämpfe. Die ukrainische Armee wurde zurückgedrängt, doch die benachbarte Stadt wird weiterhin regelmässig beschossen. Die Menschen in Odessa bereiten sich auf das Schlimmste vor.
Das Zentrum der Stadt ist mit Strassensperren abgeriegelt. Hineingelassen werden nur Anwohner und Journalisten und Journalistinnen in Begleitung von Sprechern der ukrainischen Armee. Es gibt klare Vorgaben, was gefilmt werden darf und was nicht. Bisher wurde das Stadtzentrum von Odessa von Raketen verschont. Doch auch ohne äussere Zerstörung bedeutet der Krieg für die Menschen eine persönliche Tragödie.
Entzweite Familien
Lena wohnt seit über 30 Jahren in Odessa. Die gebürtige Russin hatte während der Badeferien ihren Mann kennengelernt. Heute sitzen sie beide in Odessa in ihrer Wohnung auf dem Sofa. Die Ungläubigkeit über die Ereignisse der vergangenen Wochen steht ihnen ins Gesicht geschrieben. «Jeder in Odessa hat Verwandte oder Freunde in Russland. Einfach jeder. Ich habe eine Schwester in Russland. Diese ist überzeugt davon, dass es bei uns von Nationalisten wimmelt. Mir hört sie nicht zu. Wir haben uns jetzt geeinigt, dass wir uns nicht weiter über Politik unterhalten.»
Jeder in Odessa hat Verwandte oder Freunde in Russland. Meine Schwester in Russland ist überzeugt, dass es bei uns von Nationalisten wimmelt.
Bei Sirenenalarm ziehen sich Lena und ihr Mann in den Korridor ihrer Wohnung zurück. Die Stadt zu verlassen, kommt für sie nicht in Frage. An der Wohnzimmerwand hängen Fotos ihrer Tochter, die im sibirischen Irkutsk lebt. «Ich bin überzeugt davon, dass das Leben in der Ukraine besser wird als in Russland. Mir tut es leid für die Menschen, die kämpfen und sterben. Sie müssen einrücken und wissen nicht wohin. Solange das russische Volk nicht aufsteht, wird sich wenig ändern.»
Im Visier von Raketen
Der soziale Bruch mit Bekannten in Russland hat für das Ehepaar bereits 2014 mit der Annexion der Halbinsel Krim begonnen. Gennadi hat aus seiner Zeit bei der Armee Bekannte in Russland und Belarus. Seinen zweijährigen Militärdienst leistete er in den 1980er-Jahren auf einer Basis für Atomraketen auf dem Gebiet von Belarus. «Damals waren die Raketen alle in Richtung Westen gerichtet.»
Atomwaffen – was deren Einsatz bedeuten könnte, weiss niemand.
Auf das Risiko eines Einsatzes von strategischen Atomwaffen durch Russland angesprochen antwortet Gennadi zögerlich: «Atomwaffen – was deren Einsatz bedeuten könnte, weiss niemand. Aber was wir heute sehen, Raketen verschiedenen Typs, die auf die Städte unseres Landes geschossen werden, ist bereits sehr schwer.»
In ihrer Wohnung hörten Gennadi und Lena bisher nur ein Grollen in weiter Ferne, wenn eine russische Rakete von der ukrainischen Luftabwehr abgeschossen wurde. Begreifen lässt sich diese Realität in Odessa für die Menschen nicht. Doch die Augen davor verschliessen, das kann sich niemand in der Stadt leisten.