Im Gazastreifen sind laut der UNO eine halbe Million Menschen vom Hungertod bedroht. Statt der benötigten 300 Lastwagen mit Hilfsgütern erreichen pro Tag bloss halb so viele das Krisengebiet. Der Sprecher der Weltgesundheitsorganisation WHO, Christian Lindmeier, schildert die dramatische Lage im Palästinensergebiet.
SRF News: Wie präsentiert sich die Lage derzeit in Gaza?
Christian Lindmeier: Sie ist wirklich katastrophal – auch wenn das Wort überstrapaziert ist, nachdem es seit Monaten für die Beschreibung der Lage im Gazastreifen verwendet wird. Denn die Lage vor Ort wird immer schlimmer. In Rafah, im Süden des Gazastreifens, befinden sich inzwischen bis zu 1.7 Millionen Menschen auf dichtestem Raum zusammengedrängt.
Die medizinische Versorgung ist grösstenteils zusammengebrochen.
Sie leben unter Planen oder in Zelten, obschon dort wie bei uns auch Winter herrscht. Seit langem gibt es keine annähernd normalen hygienischen Verhältnisse mehr, Frischwasserversorgung und Strom wurden mit Absicht abgeschaltet. Die medizinische Versorgung ist grösstenteils zusammengebrochen. Derzeit gibt es noch in acht Spitälern eine minimale Notfallversorgung. Ursprünglich waren es insgesamt 36 Spitäler im Gazastreifen.
Wie ist die Situation in anderen Teilen des Küstenstreifens, etwa im Norden?
Die Invasion der israelischen Armee hat ja im Norden begonnen und wurde in Richtung Süden fortgesetzt. Von den ursprünglich insgesamt rund 2.5 Millionen Menschen im Gazastreifen befinden sich nun etwa 1.7 Millionen im Süden. Rund 800'000 Menschen sind also noch immer über den restlichen Gazastreifen verteilt, manche befinden sich noch immer im Norden. Manche Gebiete dort sind völlig unbewohnbar, auch wenn das nicht alle Gebiete betrifft.
Es handelt sich um ein Kriegsgebiet – und die Menschen müssen sich jeden Tag um Wasser und Essen kümmern.
Wie überall in Krisengebieten auf der Welt versuchen viele Menschen auch im Gazastreifen, möglichst lange in ihrem Wohngebiet zu bleiben. Auch dort ist die Lage allerdings sehr schwierig. Es handelt sich um ein Kriegsgebiet, und die Menschen müssen sich jeden Tag um Wasser und Essen kümmern – auch für ihre Kinder und die alten Menschen. Und bei der jeweils nächsten Angriffswelle müssen sie versuchen, irgendwo Schutz zu finden.
Wovon ernähren sich die Menschen angesichts des Mangels an Hilfsgütern?
Es gibt auch Berichte, dass die Menschen im äussersten Fall Hunde- oder Katzenfutter essen, oder alles andere, was irgendwie gegessen werden kann. Alte und Schwache kommen als erste nicht mehr zu Nahrungsmitteln, jede und jeder kämpft ums Überleben. Es gibt kein Recht und keine Ordnung mehr. Deshalb sind die Hilfskonvois so wichtig, ebenso die Hilfslieferungen aus der Luft – obschon diese nicht immer die erreichen, die die Hilfe am nötigsten haben.
Können Sie die Berichte bestätigen, wonach bereits einige Kinder an Hunger gestorben sein sollen?
Leider ja. Offiziell sind bislang mindestens 15 Kinder an Hunger gestorben.
Die Hungertoten sind nur die deutlich sichtbare Spitze des Eisbergs.
Mit welchen Szenarien ist zu rechnen, wenn nicht bald viel mehr Hilfsgüter im Gazastreifen ankommen?
Man muss damit rechnen, dass noch mehr Menschen an Hunger sterben werden. Vor allem die Schwächsten – Kinder, Alte, Neugeborene – sind am meisten vom Hunger bedroht. Und selbst wenn sich die Situation rasch verbessern würde, sind jene, die jetzt bereits von Unterernährung betroffen sind, möglicherweise fürs Leben gezeichnet. Denn unterernährte Kinder wachsen weniger, die Hirnentwicklung ist beeinträchtigt und vieles mehr. Die Hungertoten sind nur die deutlich sichtbare Spitze des Eisbergs. Alles darunter – der Eisberg selbst – ist das wirklich Besorgniserregende.
Das Gespräch führte Matthias Kündig.