Vor knapp einem Jahr drangen Terroristen der militant-islamistischen Hamas vom Gazastreifen in Südisrael ein. Sie massakrierten am 7. Oktober 2023 rund 1200 Menschen und nahmen über 200 Geiseln. Seither dreht sich die Gewaltspirale immer schneller. Eine Zwischenbilanz des schweizerisch-israelischen Wissenschaftshistorikers José Brunner in Tel Aviv.
SRF News: Wie ist die Stimmungslage in Israel am heutigen jüdischen Neujahrstag Rosch Haschana?
José Brunner: Deprimiert, ungewiss und verängstigt. Es ist schwierig, die Stimmungslage eines ganzen Landes zusammenzufassen. Es kommt drauf an, ob man im Norden gelebt hat und evakuiert ist, ob man im Zentrum des Landes lebt wie ich oder im Süden, wo man dem Angriff der Hamas ausgesetzt war. Doch das ganze Land hat die gestrige Nacht zu einem grossen Teil im Luftschutzkeller verbracht.
Das Land liegt in einer allgemeinen Stimmung der Melancholie.
Der Krieg geht jetzt ins zweite Jahr. Wie hat er die Menschen in Israel verändert?
Der Krieg hat wohl mit vielen Illusionen bezüglich der Regierung aufgeräumt. Die Regierung interessiert sich nicht besonders für die israelische Bevölkerung. Es ist ein populistisches Regime. Dessen Einstellung ist, dass die Bevölkerung der Regierung dienen soll und nicht umgekehrt. Die Israelis sind noch pessimistischer geworden in Bezug auf eine Lösung des Nahostkonflikts. Das Land liegt in einer allgemeinen Stimmung der Melancholie. Das Volk steht zwar hinter der Armee, aber nicht in gleichem Mass hinter der Regierung. Gemäss allen Meinungsumfragen würde Benjamin Netanjahu heute nicht mehr als Premier gewählt.
Gibt es noch Empathie mit Palästinenserinnen und Palästinensern?
Empathie für die Opfer des jetzigen Krieges auf palästinensischer Seite gibt es nicht – trotz über 40'000 Toten, darunter Kinder, Frauen und Betagte. Im Gegenteil: Es gibt eine Art «Empathie-Verbot». In einem Krieg ist das nicht überraschend, denn man hat Empathie für das eigene Leiden und nicht jenes der andern. Aber wie stark das in Israel geworden ist, hat mich schon überrascht. Auch auf palästinensischer Seite gibt es nicht grosse Empathie für Israelis. Für die Palästinenser sind die Israelis die Mächtigen, die die Palästinenser unterdrücken und militärisch besetzt haben.
Im Moment sind wir total in der Gewaltspirale drin. Der gestrige Angriff aus dem Iran ist eine Art Höhepunkt.
Gibt es eine Möglichkeit, aus dieser Gewaltspirale herauszukommen?
Im Moment sind wir total in der Gewaltspirale drin. Der gestrige Angriff aus dem Iran ist eine Art Höhepunkt. Der nächste Höhepunkt kommt wahrscheinlich, wenn Israel wieder einen Vergeltungsschlag durchführt. In solchen Momenten von Hoffnung auf Frieden zu sprechen, ist sehr schwierig.
Läuft es auf eine langfristige Besatzung des Gazastreifens und vielleicht sogar Libanons hinaus?
Ich hoffe sehr, dass das nicht eintrifft. Aber solange die israelische Regierung keinen politischen Plan für den Tag nach dem hat, was sie sich als Sieg erhofft, ist völlig unklar, was die Zukunft bringen wird.
Israel behandelt den Konflikt wie eine chronische Krankheit: Man kann nur versuchen, so gut wie möglich damit zu leben.
Ist eine Zweistaaten-Lösung noch realistisch?
Das ist völlig unklar. Das wäre die ideale Lösung in vielerlei Hinsicht. Zuerst müsste auf israelischer Seite aber überhaupt eine Bereitschaft bestehen, in Richtung einer Lösung zu arbeiten. Doch Israel behandelt den Konflikt wie eine chronische Krankheit: Man kann sie nicht heilen, sondern nur versuchen, so gut wie möglich damit zu leben. Doch dieses System ist am 7. Oktober zusammengebrochen, und jetzt sind alle ratlos.
Das Gespräch führte Iwan Lieberherr.