Auch nach der Tötung von Hisbollah-Chef Nasrallah gehen die Kämpfe zwischen der schiitischen Miliz in Libanon und den israelischen Streitkräften weiter. Die permanente Bedrohung aus dem Norden seit dem Hamas-Massaker vom 7. Oktober lasse Israel keine andere Wahl, sagt der Journalist Daniel Bettini von «Yedioth Acharonot» und berichtet zugleich von der wachsenden Wut der Bevölkerung auf die Geiselpolitik von Premier Netanjahu.
SRF News: Wie schätzen Sie die Stimmung in Israel nach dem Tod von Hisbollah-Chef Nasrallah ein?
Daniel Bettini: Es herrscht sicher eine Erleichterung. Natürlich wollen wir keine zivilen Opfer auf keiner Seite. Aber dass ein Terrorist wie der Hisbollah-Chef Hassan Nasrallah nicht mehr unter uns ist, macht die Welt zu einem besseren Ort.
Befürwortet die israelische Gesellschaft den Krieg gegen die Hisbollah in Libanon?
Wir wollen keinen Krieg, und wir haben auch nie Krieg gewollt, weder in Gaza noch jetzt in Libanon. Aber seit dem 7. Oktober ist die Hisbollah eine permanente Bedrohung. Sie schiesst täglich Tausende Raketen auf Israel. 80’000 Menschen mussten aus dem Norden evakuiert werden. Als immer klarer wurde, dass es keine diplomatische Lösung geben wird, wurde die Militäraktion zu unserer einzigen Möglichkeit, um Sicherheit zu gewährleisten, was von den Menschen in Israel unterstützt wird. Es kann einfach nicht so weitergehen.
Die grösste Angst ist, dass die Hisbollah ein ähnliches Massaker verüben könnte wie die Hamas vor einem Jahr im Süden Israels.
Sie sprechen den Norden Israels an, der seit einem Jahr unbewohnbar ist aufgrund der täglichen Angriffe der Hisbollah.
Absolut. Die grösste Angst ist, dass die Hisbollah einen ähnlichen Angriff, ein ähnliches Massaker verüben könnte, wie es die Hamas vor einem Jahr im Süden Israels getan hat. Der Unterschied ist, dass die Hisbollah-Miliz viel stärker und besser organisiert ist als die Hamas. Die Hisbollah ist eine riesige Organisation mit mehr als 150’000 Raketen, die Israel zerstören könnten. Das ist auch ihre Doktrin: die Vernichtung unseres Landes.
Niemand hier will zivile Opfer, auch nicht in Libanon oder in Gaza. Aber leider sind Kriege immer grausam. Das sind unsere Überlebenskriege.
Es gibt nun sehr viele Tote in Libanon. Das wirtschaftlich angeschlagene Land hat jetzt auch noch eine traumatisierte Zivilbevölkerung auf der Flucht. Wie sieht das die israelische Gesellschaft?
Es ist ganz klar: Niemand hier will zivile Opfer, auch nicht in Libanon oder in Gaza. Aber leider sind Kriege immer grausam. Das sind unsere Überlebenskriege. Man darf nicht vergessen, dass sich diese Terrororganisationen in zivilen Häusern, unter Spitälern oder in Schulen verschanzen. Dadurch bringen sie die Zivilbevölkerung in Gefahr, was die Zahl der Todesopfer erhöht. Israel hingegen schützt seine Zivilbevölkerung durch das Raketenabwehrsystem Iron Dome und sichere Luftschutzräume in fast allen Häusern und Wohnungen. Der Staat hat viel investiert und dadurch viele Leben gerettet.
Es ist offensichtlich, dass der Premier nicht alles unternimmt, was in seiner Macht steht, um die Geiseln aus Gaza zu befreien.
Wie gross ist der Rückhalt in der Bevölkerung für den Kurs von Premierminister Benjamin Netanjahu?
Der Rückhalt von Netanjahu ist nicht gross. Es ist offensichtlich, dass der Premier nicht alles unternimmt, was in seiner Macht steht, um die Geiseln aus Gaza zu befreien. Natürlich liegt es an ihm, ob er einen Deal mit der Hamas macht. Aber er zögert wichtige Entscheidungen hinaus, und die Wut auf der Strasse gegenüber der Regierung wächst.
Die Geiselbefreiung ist ein zentrales Thema der öffentlichen Debatte in Israel. 101 entführte Geiseln aus Israel befinden sich noch in Gaza, die Hälfte soll noch am Leben sein. Wie verkraftet das Land das?
Ehrlich gesagt, das Land verkraftet das kaum. Wir konnten immer mit Krieg und Anschlägen umgehen. Aber zum ersten Mal in der Geschichte Israels wurden so viele unserer Familienmitglieder und Freunde entführt, und wir wissen nicht, wer noch lebt und wer nicht. Das ist eine Katastrophe für unser Land. Wir sind in der Frage, ob man einen Geisel-Deal mit der Hamas eingehen soll, gespalten. Aber in der Trauer sind wir vereint.
Das Gespräch führte David Karasek.