Israel hat fast die gesamte Führungsriege der Hisbollah getötet und erhöht den militärischen Druck weiter. Nicholas Noe hat sich viele Jahre mit der Schiitenmiliz befasst. Er warnt: Die Hisbollah sei weiterhin zu massiven Gegenschlägen fähig – und die ganze Region stehe am Rand eines grossen Krieges.
SRF News: Wie schätzen Sie die Bedeutung von Nasrallahs Tod für die Hisbollah und den Iran ein?
Nicholas Noe: Es ist ein grosser Verlust für die Hisbollah, für ihre Anhänger im Libanon und auf der ganzen Welt. Sein Tod ist ein grosser Verlust für Irans Achse des Widerstands. Teheran hat seit den 1980er-Jahren viel Zeit, Geld und viele Menschenleben in den Aufstieg der Hisbollah investiert.
Seit dem Gaza-Krieg droht der Konflikt in eine viel grössere militärische Konfrontation in der Region umzuschlagen.
Die Tötung Nasrallahs ist zwar ein grosser Schlag für die Hisbollah, aber man muss auch sehen: Die Hisbollah ist gut organisiert, motiviert und verfügt über enorme Fähigkeiten. Sie ist bei Weitem die militärisch fähigste und am besten ausgerüstete Kampftruppe der Welt, die kein staatlicher Akteur ist.
Wie hat Nasrallah die Hisbollah geprägt?
Hassan Nasrallah hat diese Organisation zum effektivsten und stärksten nicht staatlichen militärischen Akteur seit vielen Jahrzehnten gemacht. Das ist eine riesige Herausforderung für Israel. Keine arabische Armee hat es bislang geschafft, die israelische Armee gewaltsam von besetztem Gebiet zu vertreiben.
Die Hisbollah hat das im Jahr 2000 getan. Und keine arabische Armee hat wie die Hisbollah 2006 über 30 Tage Krieg mit den Israelis ausgehalten – und den Israeli dabei gleich viele Verluste zugefügt, wie sie selbst erlitten hat. Nicht einmal der Iran hat es geschafft, seine militärische Schlagkraft so schnell der israelischen anzugleichen.
Wie könnte sich die Lage in Nahost Ihrer Meinung nach nun entwickeln?
Ich denke, dass der Konflikt in seine nächste Phase übergeht. Ich habe diesen Moment lange gefürchtet. Seit der damalige US-Präsident Donald Trump 2018 das Atomabkommen mit Iran aufgekündigt hat, befinden wir uns in einem stetig eskalierenden Konflikt. Mit dem Gaza-Krieg droht er, in eine viel grössere und zerstörerische militärische Konfrontation in der Region umzuschlagen. Diese beginnt für alle – einschliesslich Israel – existenziell zu werden.
Ich bin enorm besorgt darüber, dass die israelische Führung glaubt, dass die Hisbollah kurz davor ist, zerschlagen zu werden. Die Hisbollah dürfte ihre Fähigkeit beibehalten haben, mit massiver militärischer Gewalt auf die israelische Eskalation zu reagieren. Es ist wahrscheinlich, dass sie dies jetzt auch tun wird.
Ich halte es auch für wahrscheinlich, dass sich die Iraner nun wieder viel direkter einmischen. So wie sie es bereits im Frühling getan haben. Dies war eine der kostspieligsten und potenziell gefährlichsten Nächte in der modernen Geschichte, was den Einsatz ballistischer Raketen betrifft.
Es sieht so aus, als stünden wir am Anfang eines massiven, zerstörerischen Krieges.
Wir sollten den Blick vor allem darauf richten, dass sich gerade etwas Schreckliches vollzieht: Es sieht so aus, als stünden wir am Anfang eines massiven, zerstörerischen Krieges.
Was bedeutet Nasrallahs Tod für das fragile Machtgefüge in Libanon?
Es ist unmöglich, die innenpolitischen Entwicklungen im Libanon vorauszusagen. Das Land hat viele Probleme, und die Hisbollah hat viele Feinde im eigenen Land. Es gibt aber keine militärische Gegenmacht zur Hisbollah im Libanon und auch keine starken Persönlichkeiten, die mit ihr konkurrieren können – selbst wenn die Organisation quasi 'enthauptet' worden ist.
Das Gespräch führten Jonas Bischoff und Anita Bünter.